Renate Hürtgen*
Was ist eine halbe Solidarität wert?
Kritische Fragen an den Aufruf für gewerkschaftliche Solidarität
Warum ist es für viele Linke so schwer, in diesem Angriffskrieg Russlands zur Vernichtung der Ukraine zu einer Position der vorbehaltlosen Solidarität mit dem angegriffenen Land zu finden? Ein leider nicht kleiner Teil der deutschen Linken hat sich sogar dafür entschieden, Ukraine und Russland zu gleichermaßen beteiligten Kriegsparteien zu erklären, die beide aufgefordert werden, ihre „Kriegshandlungen“ unverzüglich einzustellen. „Täter“ und „Opfer“ dieses Krieges werden in einem Zuge genannt, wenn es um begangene Verbrechen geht. Von diesen Linken geht keinerlei Empathie für die seit einem Jahr bombardierte und massakrierte ukrainische Bevölkerung aus. Eine solche Haltung ist jedoch populär und bringt Linken, die an die Angst und mögliche Betroffenheit der Deutschen appellieren, viel Zuspruch. Wir haben es am 25. Februar in Berlin gesehen und gehört.
Tatsächlich ist es sehr viel komplizierter, sich nicht auf populistische Allgemeinplätze von Kriegen, die immer schrecklich sind, zurückzuziehen und das Dilemma zu beschreiben, das sich mit einer Entscheidung pro oder contra Waffenlieferungen an die Ukraine verbindet. Allerdings heißt ja eine Solidarisierung mit den Ukrainer:innen nicht, die deutschen Waffenlieferungen gut zu heißen und auch nicht, die praktische Solidarität aus pazifistischer Gesinnung nicht auf humanitäre Hilfe zu beschränken. Warum also tut sich die Mehrheit der deutschen Linken mit der Solidarität für die Ukraine derart schwer? Warum schweigen viele, schließen sich der Losung „Keine Gewalt!“ an oder drücken sich auf andere Art und Weise davor, ihre Solidarität mit dem Verteidigungskampf der Ukrainer:innen deutlich zu bekunden?
Im Januar 2023 veröffentlichte die SoZ einen Aufruf für die Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften, den sie im Februar in veränderter Fassung, unterschrieben von 75 Personen aus dem linken betrieblichen und gewerkschaftlichen Spektrum, ins Netz stellte. Darin wird um Spenden für humanitäre Hilfe, namentlich für die Gewerkschaften der Eisenbahner:innen und des Krankenhauspersonals gebeten, die sich im Kampf gegen den Abbau von Rechten der abhängig Beschäftigten in der Ukraine befinden. Tatsächlich haben die Regierung sowie verschiedene Oligarchen nach dem Beginn des Krieges ihren neoliberalen Kurs massiv verstärkt und tiefe Einschnitte ins Arbeitsrecht vorgenommen. Die Zeitung analyse & kritik berichtete über den Kampf gegen diese Verschlechterungen des Arbeitsrechts schon im Mai 2022, nachdem sie in Lwiw auch Kontakte zu ukrainischen Gewerkschafter:innen aufgenommen hatte; in unserer Gruppe „For the Right to resist – Linke Ukraine-Solidarität Berlin“, haben wir uns mehrfach aus erster Hand darüber informieren lassen. „Die zweite Kampffront“, nennt Oleg Shkoliar, Eisenbahner und Gewerkschaftsfunktionär, ihren Kampf um Arbeitnehmerrechte. Die „erste Kampffront“ ist ihr Verteidigungskrieg gegen die russische Armee, den sie ausnahmslos, wenn auch auf unterschiedliche Weise, unterstützen.
Die Haltung linker sozialer Akteure und Gewerkschafter:innen in der Ukraine zur militärischen Verteidigung der ukrainischen Souveränität war von Anbeginn klar, unabhängig davon, wo jede und jeder ihren oder seinen Platz darin findet. Und sie scheint ungeachtet vieler existenzieller Probleme, die dieser Krieg in der Ukraine verursacht, ungebrochen, wie ich dem Interview mit Juryi Samojlow, Vorsitzender der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft in Krywyi Rih, entnehme (SoZ 2/23, S. 19). Er spricht davon, dass es die Hauptaufgabe der Gewerkschaft sei, den Mitgliedern, die jetzt in der Armee sind, zu helfen, dass die Armee großen Rückhalt in der Gesellschaft habe, dass die Armee und das Volk in der Ukraine ein und dasselbe seien und dass die Mehrheit der Menschen auf einen Sieg warte. Er schließt an: „Wir hoffen auf einen Sieg, aber wir haben auch einen Klassenstandpunkt.“
Ich habe von Anbeginn bewundert, wie es unseren Kolleg:innen und Genoss:innen in der Ukraine gelingt, ungeachtet ihres existenziellen Kampfes um eine souveräne Ukraine, keinen Deut von ihrer Kritik an der Regierung und den Oligarchen abzuweichen. Den Verfasser:innen des Aufrufs zur gewerkschaftlichen Solidarität gelingt diese Verbindung nicht. Sie erwähnen mit keinem Wort, dass dieselben Gewerkschafter:innen, die sie unterstützen wollen, gerade in einem Verteidigungskrieg gegen die russische Aggression stehen, dass sie nicht nur Opfer in diesem Krieg sind, sondern aktiv in unterschiedlicher Weise an der „ersten Front“ kämpfen.
Den Verfasser:innen des Aufrufs scheint dieser Kampf ohnehin fragwürdig. Sie schreiben von der Devise des „Zusammenrückens“, die die Regierung derzeit ausrufe und der die Bevölkerung „meint“ folgen zu müssen, „um die nationale Souveränität zu erhalten“. Das klingt überhaupt nicht nach einem Aufruf zur Solidarität für die im Kampf stehende ukrainische Bevölkerung, einschließlich der hier bedachten Gewerkschafter:innen. Die Autor:innen des Solidaritätsaufrufs haben sich dafür entschieden, ihre Kolleg:innen als Lohnabhängige zu unterstützen, aber zu ignorieren, dass diese Lohnabhängigen gerade in einem Widerstandskampf gegen Russlands Truppen stehen, ohne den es keine Ukraine und keine ukrainischen Gewerkschaften mehr gäbe. Über diesen Existenzkampf der ukrainischen Gewerkschaften wird im Solidaritätsaufruf kein Wort verloren. Was aber ist eine halbe Solidarität wert?
Nachtrag: Wir stehen alle vor dem schwierigen Problem, uns eine linke Position in einem Verteidigungskrieg um einen souveränen Staat zu erarbeiten, in dem zugleich der Klassenkampf um gewerkschaftliche und andere bürgerlich-demokratische Rechte geführt werden muss. Wann und wo aber hat es je einen nationalen Befreiungskampf in einem Land ohne Klassen gegeben? Wurde das jemals zum Hindernis für eine linke Solidarität? Warum fällt es vielen deutschen Linken aktuell so schwer, die ukrainischen Lohnabhängigen in ihrem Widerstandskampf gegen einen imperialistischen Staat internationalistisch zu unterstützen?
Erschienen: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 3-4/2023, 61. Jahrgang, S. 20
****
About Russian Neo-Imperialism
Bernd Gehrke is critical of those in the peace movement and left who dismissed the threat of invasion coming from Russia – a failure to understand the genesis of today’s Russian capitalism and its emergence from Soviet-era party bureaucracy.
March 30, 2023 Bernd Gehrke Against the Current
For BORIS ROMANCHENKO (1)
THERE HAS RARELY been such an embarrassment of leftist positions: Russia’s war of aggression against independent Ukraine has made absurd the assessment expressed shortly before by many (and some prominent “campist” or pacifist) leftists that, despite the military saber-rattling on Ukraine’s borders, no threat of war emanated from Russia.
The most important players in the German peace movement have publicly acknowledged their error, so a fair discussion with them is possible. But there has been little discussion about what the reasons were for this fundamental misjudgment. Probably one of the most important causes for the misjudgment is the lack of preoccupation with the aggressive character of Russian contemporary capitalism.
This preoccupation is necessary, not only because of the current war against Ukraine and the danger of nuclear war that has once again become apparent. The previous crushing of the political opposition in Russia, and the increasing repression of the Putin regime during the war, poses the danger that the regime will develop from authoritarian presidential rule into an openly totalitarian-fascist regime, as the Russian sociologist Greg Yudin recently noted. (2)
For example, it was almost completely lost in the flood of war news that shortly after the war began, security forces for hours occupied the premises of the Memorial human rights organization in Moscow, which was banned at the end of 2021, and confiscated numerous documents and computers.
In view of the war in Ukraine and the numerous crimes against Russian civil society, this incident seems almost harmless. However, like the banning of Memorial itself, the raid makes clear that this is an attack on every precondition of social self-organization: on the discussion of independent narratives of history and society, in favor of a totalitarian ruling ideology.
Yet the virtually hopeless economic situation into which the invasion of Ukraine has brought Russian capitalism poses a considerable danger not only for the Russian opposition. Radicalization and increasing violence on the part of the Putin regime, both internally and externally, are to be feared. At the same time, Russia’s foreign policy goals, which have already been proclaimed, are threatening enough for its neighbors and for Europe as a whole.
The Putin regime today not only openly embodies the arch-reactionary ideology of the global New Right in cultural and domestic politics, but the brutal reality of authoritarian-repressive and neoliberal Wild East capitalism with all its ugliness that’s likewise clearly before everyone’s eyes.
Russia’s internal constitution should make deception about the character of Russian foreign policy impossible — “should,” were it not for the fact that many on the left look the other way. So the German left hardly discusses the character of Russian wild-east capitalism, whose brutality differs little from that of wild-west capitalism in the emerging countries of the South.
The standard of living of wage earners is far lower and rural infrastructures far less developed than in the West, showing that Russia is still a Second World country. Moreover, it is a country with an extreme contrast of poverty and wealth, with that small layer of the one percent super-rich facing a huge mass of poor people.
The so-called middle class, on the other hand, comprises a maximum of 10% of the population. One of the first measures after Putin took office as president was the introduction of a neoliberal flat tax of only 13% on incomes and the implementation of various deregulation and privatization measures.
The daily struggle for existence in the big cities with their masses of precarious jobs, which like the country’s construction sites are filled by migrant low-wage workers from Russia’s backyard in Central Asia, constantly increases the pressure on militant trade unions by the phalanx of state and capital.
The western left has shown little interest in this dramatic situation of the working classes in Russia, which is similar to the situation in other emerging countries. Likewise, it has shown little interest in land grabbing and the overexploitation of nature on a huge scale, accompanied by violent actions and death threats against eco-activists and resisting small farmers. There is even a small trade union or NGO, “Alternative,” whose goal is the liberation of people from private slavery.
There exists a vast force field of corruption affecting virtually every aspect of political power, the police, the judiciary and capital. The resulting open exploitation of people and the overexploitation of nature not only makes clear the kleptocratic character of the connection between the authoritarian state apparatus and real wild-east capitalism. It also explains the many murders of investigative journalists.
State protection laws for people and nature, if they exist, are usually only a polished accessory for the often overtly violent enforcement of capital’s interests.
Western multinationals such as Coca Cola and Volkswagen (VW) behave no differently in Russia than they do, for example, in Mexico.
The Example of Volkswagen
In 2019 VW management presented a wage settlement below the rate of inflation in negotiations with two company unions. When one of the two unions, MPRA, part of the independent Confederation of Labor (KTR) (3), which represented 38% of the workforce in the collective bargaining committee, began collecting signatures from the workforce to solicit their opinions, VW management banned it from the plant floor.
Because the collection of signatures continued outside the plant gate, VW accused the unionists of “terrorism” and called the police. The regional labor ministry, in collusion with the governor, then banned the signature gathering, clearly contravening existing legal rights of the unions.(4) We have long known this practice of cronyism of the German flagship corporation with authoritarian regimes, Brazil or apartheid South Africa being prominent examples.
This incident became a prelude to a major attack by the Russian state and capital on the rights of dependent employees and trade unions in general in the following year. On May 23, 2020 the State Duma decided to abolish the previous Labor Code, which had enshrined the autonomous negotiation of labor relations by companies and trade unions.
It has now been replaced by a law “unique in the world,” as Oleg Shein, vice chairman of the KTR, wrote. In this new version, labor relations are now “regulated by state regulations,” and in the event of a “conflict between the Labour Code and government decisions,” the government’s decision now “takes precedence.”(5) Militant trade unionists engaged in internationalist solidarity activities are also increasingly threatened by the “foreign agents” law, also used against Memorial and other human rights groups.(6)
Nomenklatura Capitalism
To understand the Putin regime’s actions, it is important to recall the genesis of today’s Russian capitalism and its emergence from the despotic former ruling “communist” nomenklatura (the privileged Soviet-era party bureaucracy — ed.).
After the failed coup of the Soviet security apparatuses in August 1991, President Boris Yeltsin initiated a shock strategy of liberalization and the ultra-fast privatization of Soviet state property. The stated goal was the rapid creation of a private “ownership class” in order to ensure the irreversibility of the capitalist path in Russia.
The result of this policy was a dramatic deepening of the already existing social and economic crisis, with disastrous consequences for the lives of most of Russia’s citizens. The average life expectancy of men fell to under 58 years, pensioners in Moscow rummaged through garbage cans for food, people made homeless by privatization camped out in Red Square, wages went unpaid for months, and miners went on strike for a bar of soap.
Privatization of state property was largely carried out through criminal channels. Through trickery, fraud, corruption and violence, companies and banks very quickly “got into the pockets” of former “red directors” and other members of the “communist” nomenklatura.
In a very short time, billions of dollars in assets were created during these “founding years” of oligarch power. Mafiosi helped just as diligently as dismissed KGB, army and police members. Thus, a corrupt and criminal network of former directors, security guards and mafiosi emerged, who had no hesitation to use violent methods to further redistribute former state property in the 1990s.
The 1990s in Russia resembled the mafia confrontations in 1930s Chicago, as can be read from many examples, such as the books of murdered journalist Anna Politkovskaya. An apt term for the system that emerged was quickly found: “nomenklatura capitalism,” a capitalism that had emerged from the division of previous state property among the former “communist” nomenklatura.(7)
Czars, Stalin, Putin
It is quite amazing when “campist” leftists see Vladimir Putin, admired by the global far right, as a poor victim of the West — that Putin who, according to Steve Bannon and his rightwing U.S. co-thinkers, is not “woke” and “has the balls” to mess with the decadent West. Apparently, Putin-defending leftists are prisoners of their own symbolic politics, as the Putin regime uses Soviet symbols of victory over Hitler’s Germany, or denazification, especially now in the war against Ukraine.
This seems to fit into these leftists’ worldview. But it overlooks the fact that the flags of the Soviet navy also flutter on the masts of Russian billionaires’ yachts, and that the Putin regime uses not only Soviet symbols but also those of tsarism, both proclaiming the “greatness of Russia.”
In this construct, the Soviet Union is openly and circumstantially regarded as what it had become under Stalin: a specific variant of the Greater Russian Empire. This is precisely why Putin so resolutely hates Lenin, who saw the Soviet Union not as a continuation of the Russian Empire, but as a union of Soviet republics based on the right of peoples to self-determination.
But how does the use of Soviet symbolism go together with the reactionary-nationalist practice of the present?
Since 2012, and especially since the 100th anniversary of the October Revolution in 2017, the regime has managed to create a historical ideology centered on the narrative of the positive nature of a Great Russian authoritarian state. In it, a development from the tsars to Stalin to Putin is constructed. Lenin has been largely erased from memory, unless he has to be held up as the culprit in the downfall of the Soviet Russian state from 1989 to 1991.
The times of the so called “Great Russian Revolution” are seen as periods of turmoil, in which Reds and Whites both wanted the best for Russia, and which eventually produced the rise of the strong Stalinist state in succession to the Tsarist Empire. Here Russia had reached its greatest expansion and its standing as a world power.
In this nationalistic way, symbols and cults of the Soviet state handed down among large groups of the people, as recollections of victory in “the Great Patriotic War” (World War II) can be mixed with the symbols of tsarism to create a reactionary melange of Russia’s greatness. In this nationalistic sense, the term “reconciliation” became the central domestic political slogan regarding the history of the 20th century.
Therefore, the holiday of May 9 today stands not so much as a symbol of remembrance of Russia’s sacrifices in defeating Hitler’s Germany and for “Never again war!,” but emphasizes Russia’s strength today and the possibility of repeating the “march to Berlin” in the struggle against the West.
No wonder that the censorship authorities have now recognized even a Youtube-Video with the famous poet Yevtushenko’s lyrics “Do you think the Russians want war?” as a statement likely to endanger the state, and they have thus banned the video clip.(8)
Contrary to some reactionary demands, out of consideration for the “conservatism” of the masses, statues of Lenin are allowed to remain standing for the time being. Yet official ideology, taking up ideas of a “Russian Eurasia” and other arch-reactionary beliefs, is profoundly “anti-Western” and “anti-liberal” and ethically conservative. It means “Russia, but normal,” to borrow an election slogan of the Alternative for Germany.(9)
This ideology is coupled with a belief in Russia’s “anti-decadent” mission and a desire for revenge for the demise of the former Russian world power called the Soviet Union. Putin’s face, distorted with rage, when he spoke of the “drug addicts in the Ukrainian government” was as genuine an expression of this ideology as was the proclamation by the Patriarch of Moscow, Cyril, that Russia’s struggle in Ukraine was justified because it was directed against the rule of homosexuals that supposedly existed there.
The Telling Beginning of Putin’s Career
Only those who disregard the criminal-capitalist turn of the authoritarian “communist” nomenklatura, which already produced dictatorial features at the beginning of the capitalist transformation of ex-Soviet state property, can be puzzled by this reactionary ideology.
At the end of 1993, when Russia’s path to capitalism seemed politically secured by Yeltsin’s deployment of tanks against Russia’s elected Congress of People’s Deputies, a delegation of leading German managers went to Russia to sound out investment conditions. During a meeting with Vladimir Putin, the deputy mayor of St. Petersburg at the time, who was responsible for looking after foreign investors, a remarkable conversation took place, which not only says something about the rulers in Russia at the time, about Putin’s way of thinking even at the beginning of his political career, but also about the German managers.
When the camera present at the meeting was turned off, a German general manager asked Mr. Putin whether a Chilean-style military dictatorship was being considered in Russia, not only in military circles. Mr. Putin answered very unequivocally, “If you ask like that … I favor a Pinochet dictatorship in Russia.”
At the end of 1993, the newspaper Neues Deutschland, on the basis of a documentary by the Westdeutscher Rundfunk (WDR) radio network a few days later, supplemented the deputy mayor’s remarks as follows:
“In this context, Mr. Putin distinguished between ‘necessary’ and ‘criminal’ violence. He said that political violence is criminal if it is aimed at eliminating market-economy conditions, and ‘necessary’ if it promotes or protects private capital investments.
“He, Putin, expressly approved of possible preparations by Yeltsin and the military to bring about a Pinochet-style dictatorship in view of the difficult economic path to privatization. Putin’s remarks were received with friendly applause by both the German company representatives and the deputy German consul general who was present.” (10)
The answer seems to have pleased the German gentlemen, because they all came and invested in Russia — Siemens, VW, Daimler, the chemical industry, and many more.
Putin and the Oligarchy
As deputy mayor, Putin was quite successful in organizing corruption-based deals between old “red” business cadres, Western managers or mafiosi with politicians, and a “successful” lunch with Mayor Sobchak could cost over $100,000. In any case, the economic situation in St. Petersburg was much more favorable than in the rest of the country, which is why Putin was brought to Moscow by Yeltsin’s staff and, after an interlude as FSB chief, soon became Russia’s prime minister.
The oligarchs, to whose election campaign Yeltsin owed his own reelection and a second term in 1996, unabashedly determined Kremlin policy. To secure their power and fortunes, they also organized the transfer of presidential power when Yeltsin had to step down after two terms in 2000. Thus Yeltsin handed over his office to Putin, who was considered a “reformer” and a man of the oligarchs, even before the end of the election period.
Immediately, the systematic staging of Putin as a bear-riding, dragon-killing superhero began. Putin used a terrorist attack (apartment bombings — ed.) in Moscow, presumably orchestrated by the secret services, to launch the second Chechen war. Through this, he demonstrated new strength and the restoration of Russia’s “honour,” which won him great approval in the 2000 presidential election.
He received equally strong popular support when Putin took on those who had brought him to power: the oligarchs. He guaranteed them the assets they had stolen, but only if they did not interfere in politics.
This was exemplified by the ousting and punishment of the richest man in Russia at the time, Mikhail Khodorkovsky. After he clashed with the president in front of running television cameras over corruption in the state apparatus and went into opposition to the president, he was arrested in 2003 and sentenced to eight years in prison in 2005.
The charge was aggravated fraud and tax evasion with damages to the Russian state of more than one billion U.S. dollars. His oil company Yukos was divided among state-owned companies. But in the background of this dispute there was also an economic-political conflict, because Putin intended to bring the oil and gas industry back into state ownership or control as an economically and politically strategically important branch for Russia.
In addition to limiting the reach of the oligarchy rooted in the criminal privatization of the 1990s, the authoritarian presidential system created by Putin produced another phenomenon. Now the cadres of the former KGB took control of the oligarchy, and furthermore now produced their own oligarchs from their ranks. Often, it was the president’s old associates and confidants who owed their new wealth to him.
Thus, Putin effectively created a new “state oligarchy” alongside and above Yeltsin’s “private oligarchy.” They occupy the most important positions in the state apparatus and state corporations as well as exercising economic control, forming a tight network of politics and strategically important economic sectors. Through their functions, their members also have the opportunity to line their own pockets. For this reason, the members of this “state oligarchy” remain all the more loyal to “the Putin system.”
Modernization of the Economy Fails
The way in which authoritarian politics and the economy are closely intertwined has consequences not only for democracy in Russia, but also for long-term economic development. The problem is the political entrenchment of two dominant economic blocs in a common political power bloc dominated by secret service agents, with the president at its center.
On one hand there is the oil and gas industry, which surpasses all other civilian economic sectors in size and the high degree of monopolization; on the other hand, the industry that develops and exports coal. In addition, there is the military-industrial complex (MIC).
The monopolistic capital strength of both economic power blocs almost regularly leads to innovative companies emerging alongside them either being bought up or forced out of the market. The subordination of Russia’s great intellectual potential, for example in the IT sector, to the needs of the military and intelligence services is another eloquent example of the resulting longterm weakening of civilian sectors, perpetuating the paradoxical situation of this giant country remaining absent from the world market.
The modernization of the fossil industry and the MIK, at the expense of the modernization of the rest of the civilian economic sphere, is the power-structure-related fatal flaw permanently impeding economic development in Russia. The Putin regime’s power structure, based on economic rents resulting from kleptocratically consumed fossil fuel rents, is therefore itself the best guarantee of Russia’s longterm economic lag behind its imperialist competitors.
The contradiction between Russia as a nuclear superpower and its economic status at the level of Brazil, which Vladimir Putin and his entourage certainly recognized as a problem, had led to the president’s declared goal of Russia becoming one of the world’s five largest economic powers by 2024.
Tacitly, however, this goal had to be put on hold. More recent forecasts before the attack on Ukraine said that Russia’s economy would stagnate in the long term and remain at about the same place in 2035 as it is today. But by that time, the fossil fuel consumption of the key countries in Europe, the main consumers of such forms of energy, will have declined dramatically.(11)
Violence Instead of Modernization
Vladimir Putin has understood the importance of the time factor in the competition between empires. In his speech and his contributions to the discussion at the Russian Valdai Discussion Club in 2021, he declared that the next few years will decide who will be the center and who will be the periphery in the world.(12)
His policies in recent years make it clear that he and his entourage must have realized that this battle cannot be won on the economic field. With his brutal suppression of any opposition at home, massive aid to the suppression of the revolts in Belarus and Kazakhstan, and his statement in January 2022 that Russia would not tolerate any revolution in the post-Soviet space, Putin had clearly expressed his willingness to escalate violence both internally and externally.
Whether Russia’s longterm economic weakness, for which the character of the regime itself is mainly responsible, formed the final, decisive trigger for the war of aggression on Ukraine against the background of the time factor cannot be answered definitively. However, it can be assumed with some degree of certainty that it was at least one of the main factors behind the decision to go to war.
If Russia cannot become a major economic power in the long run, then violence is the only means left to be a major power. The longterm economic weakness on the one hand, and Russia’s claim to great world power status on the other, explain the increasing aggressiveness of the Putin regime’s policies.
But not alone! The belief in a historical mission of a great Russian empire vis-à-vis the “decadent West,” which is deeply rooted in Russia’s ruling class and in Putin himself, always includes Ukraine. This is not only for pseudo-historical reasons, but also because, as is well known according to Zbigniew Brzezi?ski, Russia without Ukraine is a great country but not an empire.
However, the imperial dream is far greater yet. Putin’s assertion that the forcible annexation and colonization of the Baltic countries by the Soviet Union in the wake of the Hitler-Stalin Pact took place in accordance with valid international law does not bode well for all the other peoples of the Russian-Soviet prison-house of nations who became independent from Russia in 1991, such as Moldova (the Romanian-speaking Bessarabia looted by the Tsarists and Stalin) or Georgia.(13) Moreover, Putin’s junior assistant Dmitry Medvedev had announced when he was president that Russia had the right to intervene wherever ethnic Russians lived. And that applies to all former Soviet republics, including those that are now members of the EU and NATO.
The draft treaties submitted by Russia to the United States and NATO in December 2021, which called for the reversal of NATO in Eastern Europe, indicate more than clearly that Russia also seeks renewed control over former Warsaw Treaty countries in Eastern Europe.
The revanchist ambitions of Russian neo-imperialism thus clearly have the potential for further wars. But they are also reasons for the fear-driven flight of these countries under the supposedly protective wings of the United States and the West. The limited possibilities for the Putin regime to achieve its political goals in the “near abroad” and in Eastern Europe through economic or even cultural hegemony, and its fear of mass movements, are what makes this regime so aggressive and dangerous.
It is high time for leftists in the West to finally take note of the deeply reactionary and aggressive development of the Putin regime. There can be no neutrality for the left against this regime, which should of course not mean knocking on NATO’s door. Above all, a socialist left must once again become an independent political force with its own design for a new world order.
Notes
1. Boris Romanchenko died at the end of March 2022 at the age of 96 in a Russian artillery attack on Kharkiv in his apartment. He was a Ukrainian forced laborer in Nazi Germany and survived four fascist concentration camps. As vice chairman of the Buchenwald-Dora International Committee, he actively campaigned for the memory of Nazi crimes until his old age.
2. Cf. David Ernesto Garcia Doell: “A Fascist Regime Looms in Russia” Interview with Greg Yudin; https://www.akweb.de/politik/greg-yudin-in-russland-droht-ein-faschistisches-regime/
3. The independent unions of the Confederation of Labor (KTR) formed independently of the state after 1989, while the successor to the Soviet “state unions” continues today to pursue a policy of co-management with capital that is loyal to the regime. Although the KTR unions have far fewer members than the state unions, most labor disputes are led by the KTR unions or small independent trade unions.
4. Cf. Doro Zinke: “Russia — Free Trade Unions under Pressure,” DGB, https://www.dgb.de/themen/++co++26a99e66-a7ca-11e9-a475-52540088cada [Accessed_12.01. 2022].
5. Cf. Oleg Shein: “Russian Capitalism and coronavirus,” KTR News, 27.05.20; http://ktr.su/en/content/news/detail.php?ID=6893 [Accessed_12.01.2022]
6. Cf. Bernd Gehrke, “In memoriam Memorial?” in express. Zeitung für sozialistische Betriebs — und Gewerkschaftsarbeit; Frankfurt/Main, No. 2-3/2022, 7-8.
7. See also the article by Slave Cubela in express 4/2022: “A Neoliberal Monster in Moscow” on Putin’s Invasion of Ukraine, 8-9.
8. https://www.br.de/nachrichten/kultur/wir-sind-keine-militaerdiktatur-zensur-em poert-russlands-medien,T2KI1gM [accessed 25.03.2022].
9. The “Alternative for Germany” (AfD) is the largest party of the New Right in Germany. Its campaign slogan in the last federal election was “Germany, but normal!” It was directed against the “left-green filthy hippie republic” in favor of an authoritarian-conservative restructuring of society [accessed 25.03.2022].
10. Cf. Vice Mayor of St. Petersburg Vladimir Putin for military dictatorship in Russia along Chilean lines, In: Neues Deutschland, 31.12.1993 [accessed 25.03.2022]. The conversation at that time was recently shown again in a new ZDF documentary, which is available in the ZDF-Mediathek. Cf. ZDF:Zeit, Putin’s Truth: The Five Mistakes of the West, documentary by Florian Huber, broadcast March 24, 2022, min. 13:43 -16:11; https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzeit/zdfzeit-putins-wahrheit-100.html [accessed 25.03.2022].
11. Both the West’s tightened sanctions against strategic technologies since February 24, 2022, and the mass emigration of intellectual potential from Russia mean a real disaster for the country’s modernization in the long term. Not only Western, even Chinese companies are now withdrawing from the country, despite all of Beijing’s political promises of alliance. [B. G., 7/1/2022]
12. Cf. Vladimir Putin took part in a plenary session of the 18th annual meeting of the Valdai International Discussion Club, October 21, 2021; http://en.kremlin.ru/events/president/news/by-date/21.10.2021 [accessed 25.03.2022].
13. So far, the Russian Federation has never confirmed the Soviet decree on the independence of the Baltic states. Just a few weeks ago, an ultranationalist Duma deputy from Putin’s United Russia party introduced a bill declaring the Soviet decree illegal. For now, the bill has been put on hold, but no one knows for how long. Meanwhile, Putin himself has openly placed himself in the tradition of Tsar Peter I’s western conquest of the Baltics and talked about “bringing Russian soil home.
[Bernd Gehrke is a historian and publicist and lives in Berlin.]
First published: November-December 2022, Against The Current (ATC) 221
New published: https://portside.org/2023-03-30/about-russian-neo-imperialism
****
Ukrainischen Widerstand unterstützen und fossiles Kapital entmachten
by Autor:innen aus UKRAINE, RUSSLAND, POLEN, DEUTSCHLAND, ÖSTERREICH UND DER SCHWEIZ
Von Ilya Budraitskis, Oksana Dutchak, Harald Etzbach, Bernd Gehrke, Eva Gelinsky, Renate Hürtgen, Zbigniew Marcin Kowalewski, Natalia Lomonosova, Hanna Perekhoda, Denys Pilash, Zakhar Popovych, Philipp Schmid, Christoph Wälz, Przemyslaw Wielgosz und Christian Zeller
Am 9. Juni veröffentlichten Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf in der Jungen Welt eine ausführliche Stellungnahme, in der sie sich für einen „antimilitaristischen Defätismus“ und für die Aufgabe des militärischen Widerstandes der Ukraine gegen den russischen Besatzungskrieg aussprachen.[1] Wir nehmen ihren Artikel zum Anlass für eine grundsätzliche Entgegnung über eine notwendige antiimperialistische und auf globale Solidarität verpflichtete ökosozialistische Perspektive. Wir sind entsetzt darüber, wie sie sich in diesem Artikel die Kriegsrealität zurechtbiegen und letztlich im Sinne des Oligarchenregimes Putins argumentieren. Paternalistisch empfehlen sie der ukrainischen Bevölkerung, sie solle sich der russischen Besatzung unterwerfen, um den Krieg zu beenden. Die Autoren nehmen nicht den geringsten Bezug auf sozialistische, feministische und anarchistische Kräfte in der Ukraine und Russland. Sie argumentieren aus einer ausgesprochen deutschen Perspektive. Damit sind sie nicht allein. Viele Stellungnahmen der alten Friedensbewegung wenden sich gegen die „Eskalation des Westens“ und „vergessen“, dass Russland schon längst eskaliert hat und die ukrainische Gesellschaft systematisch zunichtemachen will. Die Stellungnahme der fünf Autoren zielt derart weit an einer solidarischen antiimperialistischen Perspektive vorbei, dass wir es für angemessen halten, unsere Argumente dagegen zu setzen.
Umkehr der Verantwortung
Die Stellungnahme der Autoren liest sich wie viele Beiträge aus der alten Friedensbewegung und einer einseitigen nur zum Schein antiimperialistischen Linken. Selbstverständlich verurteilen sie am Anfang des Textes die Invasion in der Ukraine „ohne jede Einschränkung oder Relativierung“. Doch anschließend tun sie genau das: Sie relativieren die Aggression der Putin-Oligarchie. Unter dem Titel „An Waffenstillstand kein Interesse“ erklären sie ausführlich, warum die NATO noch viel schlimmer als Russland sei, und dass der Westen, allen voran die USA, keinen frühen Waffenstillstand wolle, sondern primär das ukrainische Schlachtfeld nutze, um Russland zu schwächen.
Die fünf Autoren drehen die Verantwortung für den Krieg um. Nicht Putin, der in aller Offenheit wiederholt jeden Waffenstillstand jenseits einer Kapitulation der Ukraine abgelehnt hat, sei für den andauernden Krieg verantwortlich, sondern das „Regime“ in Kyiv, das noch eine Woche vor dem Beginn des russischen Angriffs Verhandlungen über eine Neutralität angeboten hatte. Sie schreiben, dass das „Kiewer Regime von vornherein die militärische Antwort auf die Invasion gewählt hat und es auch Anfang Juni keine Bemühungen um einen Waffenstillstand erkennen lässt“. Nicht das Putin-Regime, das wiederholt erklärte, es werde den Zerstörungs- und Zermürbungskrieg bis zur Kapitulation der Ukraine weiterführen, sondern die Ukraine, die verzweifelt um Waffen zur Selbstverteidigung bittet, sei dafür verantwortlich, dass die Zerstörung des eigenen Landes andauert. Die Autoren geißeln die angebliche Hochrüstung der Ukraine durch den Westen, sie erwähnen jedoch mit keinem Wort, dass Russland seinen Eroberungsfeldzug nur nach einer langen politischen, wirtschaftlichen, logistischen und militärischen Vorbereitung begonnen hat.
Hinter dieser Umkehr der Verantwortung steht eine grundsätzliche Fehleinschätzung des Putin-Regimes, dessen Charakter die fünf Autoren nicht ansatzweise näher zu bestimmen versuchen. Im Gegenteil, sie setzen die protofaschistische Putin-Diktatur mit der korrupten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in der Ukraine gleich. Für die Autoren sind es ganz einfach „zwei bürgerliche Staaten, beide durch ein Oligarchensystem bestimmt“.
Bizarrerweise stützen sich die Autoren auf den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger als Kronzeugen. Weil Kissinger von der Ukraine explizit Zugeständnisse und die Abtretung von Landesteilen an Russland forderte, schreiben sie ihm eine verantwortungsbewusstere Position als der gegenwärtigen US-Führung zu. Dabei befindet sich Kissinger durchaus in Kontinuität mit seinen eigenen Positionen. Sowie er ab 1969 als Sicherheitsberater des Präsidenten den Widerstand der vietnamesischen Bevölkerung unter Flächenbombardierungen begraben ließ, so orchestrierte er 1973 den Putsch gegen Präsident Allende in Chile und die Errichtung der Diktatur Pinochets. Und gleichermaßen setzt er sich jetzt im hohen Alter über die Souveränität der ukrainischen Bevölkerung hinweg und empfiehlt ihr „realistisch“ aufzugeben. Insofern ist es keineswegs ein Zufall, dass ausgerechnet Vladimir Putin noch als 2. Bürgermeister von Petersburg 1993 die Diktatur Pinochets zum Vorbild erkor und damit ebenso wie Kissinger offenlegte, was er von demokratischen Errungenschaften hält.[2] Kissinger und Putin sind Brüder im Geiste. Wenn Sozialist:innen ausgerechnet Kissinger als Vertreter einer vernünftigen Position herbeiziehen, deutet das auf eine ziemliche Verschiebung des politischen Koordinatensystems und ein fragwürdiges Argumentationsniveau hin.
Das Putin-Regime bestreitet die Existenz einer ukrainischen Nation
Der Kreml will jede eigenständige Entwicklung der Ukraine verhindern. Die Putin-Führung betrachtet die Ukraine zusammen mit Belarus als Teil von Russland.[3] Die Unabhängigkeit der Ukraine steht im Widerspruch zu den vermeintlichen historischen Ansprüchen Russlands. Die russische Führung hat nicht auf den einen oder anderen Schachzug der NATO reagiert, sie verfolgt mit ihrem Krieg vielmehr grundsätzliche Ziele, die sie mit ihrer großrussischen Ideologie begründet. Wiederholt stellen sich Putin und Exponent:innen seines Regimes in die historische Kontinuität des Zarenreichs und schließen damit die Existenz einer eigenständigen ukrainisch-nationalen Kultur und Identität aus. Im Juni stellte Putin den Eroberungskrieg gegen die Ukraine auf eine Ebene mit dem Großen Nordischen Krieg unter Russlands Zar Peter I. und sprach schlicht von einer Rückholaktion russischer Erde.[4]
Die Ziele der russischen Führung sind also grundsätzlich und weitreichend und gehen weit über die Abwehr der NATO hinaus: die Zerstörung der Ukraine als unabhängiges Land und die Eingliederung als „Kleinrussland“. Die Kriegspraxis deckt sich mit dem Kriegsziel. Systematisch werden Städte und Dörfer zerstört, die Bevölkerung terrorisiert und vertrieben. In den besetzten Gebieten errichtet die russische Staatsmacht ein Terrorregime, gliedert die Schulen in das russische Schulsystem ein, lässt nur noch russische Medien zu und verordnet den Rubel als Zahlungsmittel. Bis zum 20. Juni brachte Russland über 1,9 Millionen Ukrainer:innen nach Russland, darunter 300 000 Kinder. Tausende Ukrainer:innen harren in Lagern in Ostsibirien aus, weit von der Ukraine entfernt.[5]
Der sowohl für die Regierungen der USA und Europas als auch für das Putin-Regime überraschend starke Widerstand der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen verhinderte eine rasche Besatzung des Landes und die Einsetzung einer prorussischen Marionettenregierung. Es war dieser Volkswiderstand in der Ukraine, der alle Akteur:innen vor eine neue Situation stellte. Die ukrainischen Oligarchen mussten sich hinter den Widerstand und gegen Russland stellen. Die Regierungen Europas und der USA mussten ihre Einschätzung, dass die Ukraine rasch einbrechen werde, korrigieren. Putin sah sich gezwungen, seine Kriegsstrategie der neuen Situation anzupassen.
Zugleich verbindet das Putin-Regime den Krieg mit einem „Werte-Kampf“ gegen den dekadenten Westen. Es will demokratische Rechte, Errungenschaften der Arbeiter:innen-, Frauen- und Homosexuellenbewegung zurückdrängen, nicht nur in Russland, sondern auch in den Gebieten unter seinem Einfluss. Russland finanziert und fördert rechtsextreme Parteien in ganz Europa und der Welt. Das Putin-Regime ist die bewunderte Speerspitze einer reaktionären bis faschistischen Bewegung mit Jair Bolsonaro in Brasilien, Marine Le Pen in Frankreich und der AfD in Deutschland.
Ukrainischer Widerstand bringt Waffenlieferungen auf die Tagesordnung
Erst der entschlossene und aufopferungsvolle Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die Besatzungstruppen stellte die NATO-Länder vor die Frage umfassender Waffenlieferungen. Unmittelbar nach Kriegsbeginn rieten die Regierungen der USA und Großbritanniens dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj, das Land zu verlassen und boten ihm Schutz an. Wie die Führung im Kreml erwarteten sie eine rasche Niederlage der Ukraine. Sie haben sich alle im Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung geirrt. Sie gingen davon aus, dass die europäischen und US-amerikanischen Konzerne nach einer Welle der Entrüstung und Wirtschaftssanktionen ihre Geschäfte mit Russland wieder normalisieren würden.
Die zähe Abwehr der Ukraine und die militärischen Schwierigkeiten der russischen Besatzungstruppen eröffnete den Regierungen der NATO-Länder die Chance, durch massive Waffenlieferungen an die Ukraine, Russlands militärische und geopolitische Position zu schwächen. Die kämpfenden Menschen in der Ukraine sind demnach nicht die Vollstrecker:innen eines imperialistischen Plans, sondern sie kämpfen für ihre legitimen Ziele und Rechte in der ukrainischen Gesellschaft, sie kämpfen um ihre Existenz als Ukrainer:innen.
Bis zum Ausbruch des Krieges kann nicht von einer Hochrüstung der Ukraine durch die NATO gesprochen werden. Die Ukraine erhielt von 2014 bis 2022 4 Milliarden USD Militärhilfe durch die USA. Seit mindestens 2015 bildete die US-Armee auch ukrainische Truppen aus, allerdings in relativ geringem Ausmaß.[6] Doch ein Großteil der militärischen Unterstützung floss erst nach Kriegsbeginn.[7] Von 2014 bis 2021 betrug die direkte Militärhilfe 2,4 Milliarden US Dollar. Die deutschen Waffenexporte an die Ukraine waren bislang relativ gering, ungleich größer waren die deutschen Waffenexporte seit 2014 – trotz Embargo – an Russland und sogar bis in die Zeit unmittelbar vor Kriegsbeginn. [8]
Ohne die Lieferungen militärisch verwendbarer Komponenten durch die deutsche (ebenso schweizerische, italienische japanische und US-) Werkzeugmaschinenindustrie wäre die russische Rüstungsindustrie nicht in der Lage gewesen, komplexe Steuerungen in ihre Waffen einzubauen. Der technologische Pfad der Sowjetunion war erschöpft und Russland muss seither wichtige Werkzeugmaschinen importieren. Der Ölboom der 2000er Jahre lieferte das Geld dazu. Ohne diese importierten Werkzeugmaschinen könnte Russland keine Rüstungsindustrie betreiben.[9]
Mitte April kündigte Präsident Biden ein weiteres Militärhilfeprogramm für die Ukraine im Wert von 750 Mio. USD an.[10] Schließlich verabschiedete der Senat am 19. Mai ein 40-Milliarden Programm zur militärischen und humanitären Unterstützung der Ukraine, was dies zum größten Hilfspaket im Ausland seit mindestens zwei Jahrzehnten machte. Ein Großteil dieser Summe wird allerdings für Infrastrukturmaßnahmen und Ersatzinvestitionen in den USA selber ausgegeben.[11] Damit hat das Engagement der USA und der NATO eine umfassende Dimension angenommen. Die US-Regierung erklärt offen, dass sie die russischen Militärkapazitäten substanziell schwächen will. Dasselbe Ziel verfolgt naheliegenderweise auch die ukrainische Regierung.
Die Interessen der USA und Westeuropas
Die Regierungen Europas und der USA sind für die Zuspitzung der geopolitischen Spannungen mitverantwortlich, allerdings nicht wegen der angeblichen NATO-Einkreisung Russlands, die die russische Propaganda an die Wand malte und die viele Linke in Europa ganz billig übernommen haben. Vergessen wird dabei, das die Ausdehnung der NATO mit dem Beitritt von Nachbarländern Russlands bis 2004 im Wesentlichen abgeschlossen war, vergessen wird vor allem, dass zahlreiche Länder Osteuropas eine NATO-Mitgliedschaft nicht aus Freude an militärischer Aufrüstung, sondern aus Angst vor einem erstarkenden russischen Revanchismus anstrebten.[12]
Die eigentliche Mitverantwortung der NATO-Staaten für die Verschärfung der Widersprüche liegt an ihrem ökonomischen Interesse an den ehemaligen Sowjetrepubliken. Das Kapital in den imperialistischen Ländern Europas und Nordamerikas suchte nicht nur neue NATO-Mitglieder, sondern wollte primär weitere Märkte erschließen und günstige Rohstoffe beziehen. Dafür brauchte es Regierungen, die den gesellschaftlichen Transformationsprozess geordnet und notfalls auch mit Gewalt organisieren konnten.
Die westlichen imperialistischen Mächte, allen voran die USA und Großbritannien, haben mit dem zunächst erfolgreichen Widerstand der Ukraine gegen die russischen Besatzungstruppen die Chance erkannt, mit einer Stärkung der militärischen Möglichkeiten der Ukraine die geopolitische Position Russlands substanziell zu schwächen. Die NATO-Führung scheint allerdings weder an einem langen Krieg noch an seiner Eskalation interessiert zu sein. NATO-Generalsekretär Stoltenberg erklärte am 12. Juni bei einem Treffen in Finnland den Abwägungsprozess: Irgendwann werde die Ukraine bekanntgeben müssen, in welche territorialen Verluste sie einwilligen und auf welche demokratischen Rechte die Bevölkerung zu verzichten bereit sei.[13]
Zugleich ist offensichtlich, dass wesentliche Länder in Europa, u.a. Deutschland und Frankreich, aber auch Österreich und die Schweiz, die Ukraine nur begrenzt unterstützen. Sie streben eine Verständigung mit der russischen Oligarchie an. Weder liefern sie wirklich die erforderlichen Waffen, noch entlasten sie die ausgeblutete ukrainische Gesellschaft mit einem Erlass der Schulden. Wesentliche Kapitalfraktionen in Europa, vor allem jene, die mit den fossilen Industrien (Deutschland, Österreich) und mit dem internationalen Rohstoffhandel (Schweiz) verbunden sind, haben jahrelang höchst profitable Geschäfte mit den Putin-Oligarchen betrieben. Sie würden gerne rasch zur Normalität zurückkehren und diese Geschäfte wiederaufnehmen. Russland ist für das westeuropäische Kapital ein ungleich wichtigerer Markt als die Ukraine.
Die öffentlichen Äußerungen wichtiger Exponent:innen des Kapitals zu einer Beendigung des Krieges häufen sich. Die westlichen Regierungen sollten der Selenskyj-Regierung klarmachen, dass die Solidarität und Geduld begrenzt sei. Schließlich sei man auf russisches Gas angewiesen. Eine noch stärkere Reduktion oder gar ein Lieferstopp werde unweigerlich zur wirtschaftlichen Katastrophe führen.
VW-Chef Herbert Diess forderte, dass die EU eine Beilegung des Krieges verhandeln müsse. Man sollte das Äußerste tun, „um die Welt wieder zu öffnen“.[14] Die Konzernleitung der BASF warnte wiederholt vor einem Embargo russischen Öls und Gases und sieht die geopolitische Blockbildung als große Gefahr für das Geschäft.[15] Magdalena Martullo-Blocher, die Chefin der EMS-Chemie in der Schweiz, fordert eine rasche Verhandlungslösung mit Putin. Die Souveränität der Ukraine und die gesellschaftlichen Anliegen der Menschen in der Ukraine sind diesen Kapitalvertreter:innen naturgemäß egal.[16] Bei einer Befragung von 280 Unternehmen durch KPMG äußerten nur gerade 10%, dass sie den russischen Markt komplett verlassen haben. Die 37% setzen ihre Aktivitäten auf „stand by“, um später die Geschäftstätigkeit wieder aufzunehmen.[17] Diese Äußerungen zeigen: weite Teile des Kapitals haben kein Interesse an einem langen Krieg. Die Regierungen versuchen über kurz oder lang, sich mit Putin darüber zu verständigen, wie sich die Welt der Märkte wieder öffnen lässt.
Der Charakter des Kriegs
Die fünf Autoren des Beitrags in der Jungen Welt wollen die defätistische Position von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Wladimir Lenin im Ersten Weltkrieg auf den gegenwärtigen russischen Besatzungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung anwenden. Die Analogie zu den Debatten in der Arbeiter:innenbewegung während des Ersten Weltkriegs biegt die Geschichte zurecht. Angemessener wäre ein kritisches Nachdenken über die Berechtigung antikolonialer Kämpfe. Schließlich ist die Ukraine kein imperialistisches Land und drohte auch nicht, andere Länder anzugreifen. Die Ukraine ist vielmehr ein junges Land, dessen Unabhängigkeit und eigene Nationenbildung Russland nicht akzeptiert und deshalb seit 2014 militärisch angreift. Das Putin-Regime möchte die Ukraine abermals als innere Kolonie in ein großrussisches Imperium integrieren, wie das schon unter den Zar:innen der Fall war.
Die ukrainische Bevölkerung führt also keinen „Stellvertreter-Krieg“ der NATO gegen Russland, sondern kämpft für ihre eigene Unabhängigkeit sowie für demokratische und soziale Rechte, die sie unter russischer Besatzung allesamt verlieren würde. Die Situation in den sogenannten Volksrepubliken im Donbas ist als wahrscheinliche Perspektive unter einem Besatzungsregime Drohung genug.
Selbstverständlich lässt sich der Krieg nur im Kontext der internationalen Rivalität zwischen den großen imperialistischen Mächten verstehen. Die USA und die NATO-Länder bereiten sich mit ihrer bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gestarteten Aufrüstungsoffensive auf mögliche militärische Konflikte mit China und den verschärften Kampf um Rohstoffe und ökologische Senken vor. Daher ist es naheliegend, dass die USA und die europäischen Mächte den Krieg in der Ukraine strategisch für ihre Ziele nutzen wollen. Solange der Widerstand der Ukraine ihren Zielen entspricht, engagieren sie sich, aber selbstverständlich nicht bedingungslos. Unterschiedliche Kapitalfraktionen der westlichen Imperialismen sehen sich durch den Krieg sogar behindert, die Märkte in Russland zu bedienen. Zudem sind weder die USA noch die europäischen Länder kriegführend. Wenn das so wäre, hätten wir tatsächlich einen Weltkrieg.
Etienne Balibar analysierte kürzlich in einem inspirierenden Diskussionsbeitrag diesen Krieg.[18] Er argumentiert überzeugend, dass dieser Krieg vier miteinander verwobene Dimensionen aufweise: erstens ein nationaler Unabhängigkeitskrieg ähnlich wie in Algerien oder Vietnam; zweitens ein weiterer Krieg infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der staatsbürokratischen Länder; drittens ein globalisierter Krieg, da die kriegführenden Länder in globale Bündnisse und Netzwerke eingebunden sind und der Krieg katastrophale Auswirkungen auf die Nahrungsmittelversorgung in vielen armen Ländern hat; und viertens schließlich die Bedrohung durch einen Atomkrieg, da Putin dieses Erpressungspotential gezielt einsetzt. Bestimmend für die Kriegsdynamik sei jedoch der gesellschaftlich breit abgestützte Unabhängigkeitskrieg gegen die russische Besatzung. Balibar zieht den Schluss, dass die Niederlage der Ukraine eine völlig unakzeptable Perspektive sei.
Kennzeichnend für die gegenwärtige Phase des Krieges ist, dass eine zeitweise und teilweise Interessensangleichung zwischen der Ukraine und imperialistischen Mächten besteht. In einer ähnlichen Situation einer zeitweiligen Interessenangleichung haben sich die Volksverteidigungskräfte und die Syrisch Demokratischen Kräfte in Nordsyrien in ihrem Kampf gegen den islamischen Staat durch die US-amerikanische Luftwaffe massiv unterstützen lassen, ohne diese sie den Kampf verloren hätten. Dass dieser Schutz nicht andauert, erleben wir gerade jetzt angesichts der verstärkten türkischen Angriffe. In diesen Tagen fordert die Führung PYD, der stärksten Partei in Nordost-Syrien, von der NATO eine No-Fly-Zone, paradoxerweise gegen das NATO-Land Türkei. Das ist selbstverständlich kein Grund sich vom Widerstand in Rojava zu distanzieren, sondern ganz im Gegenteil ist Anlass die Solidarität zu verstärken.
Aus unserer Analyse folgern wir, dass die Ukraine das Recht hat, sich Waffen zu beschaffen, wo immer sie diese erhält. Die USA und europäische Regierungen liefern in einem wohl dosierten Ausmaß Waffen, allerdings aus ihrer eigenen Motivlage heraus. Möglicherweise werden die Regierungen der westlichen Imperialismen die Ukraine über kurz oder lang dazu zwingen, im Rahmen einer „Verhandlungslösung“, die Souveränität über weite Landesteile im Osten und Süden aufzugeben und damit eine Teilniederlage zu akzeptieren. Insofern stehen jene, die jetzt nach sofortigen Verhandlungen rufen, gar nicht so weit entfernt von „ihren“ imperialistischen Regierungen.
Überhebliche Empfehlung zur Kapitulation und zum „sozialen Widerstand“
Die Autoren empfehlen in ihrem Beitrag in der Jungen Welt der Ukraine und damit auch ukrainischen Linken, Gewerkschaften oder anderen emanzipatorischen Bewegungen kaum verhohlen die Kapitulation. Meinen sie ernsthaft, dass sich unter den Bedingungen einer militärischen Besatzungsdiktatur und massenhafter Deportation von potentiellen Oppositionellen eine lebendige Zivilgesellschaft oder gar kämpferische Gewerkschaften herausbilden können? Sollen die russischen Truppen auf diese Weise friedlich zum Abzug bewegt werden? Diese Vorstellung ist grotesk und absurd und die daraus abgeleiteten Empfehlungen an die Menschen in der Ukraine sind paternalistisch und neokolonial. Am 28. Juni stellte Kremlsprecher Dmitri Peskow einmal mehr unmissverständlich dar, was die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand sind: „Die ukrainische Seite kann alles noch vor dem Ende des heutigen Tages stoppen“. Dafür sei „ein Befehl an die nationalistischen Einheiten“, an die „ukrainischen Soldaten zur Niederlegung ihrer Waffen“ notwendig. Kiew müsse außerdem alle russischen Bedingungen erfüllen. „Dann wäre alles binnen eines Tages vorbei.“[19] Solange die ukrainische Bevölkerung nicht ausgebombt, ermattet, traumatisiert und demoralisiert kapituliert, solange wird die Putin-Diktatur also ihren Bombenterror weiterführen.
Die Autoren nehmen die vom Putin-Regime selber offen formulierten Kriegsziele einer Zerstörung der ukrainischen Gesellschaft nicht ernst. Darum stellen sie verfehlte historische Analogien her. Ihre Vergleiche mit Erfahrungen des „friedlichen“ Widerstands gegen den Kapp-Putsch 1920, die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Streitkräfte 1923 und des friedlichen Widerstands der tschechoslowakischen Demokratiebewegungen gegen die sowjetischen Truppen 1968 sind absurd. Sie gehen darüber hinweg, dass das Putin-Regime die Existenz einer eigenständigen Ukraine und eine ukrainische Nationenbildung in Frage stellt. Sie verkennen die systematisch auf ethnische Säuberung angelegte Kriegsführung des russischen Imperialismus. Die fünf Autoren demonstrieren mit dieser ignoranten Überheblichkeit, dass sie mit den sozialistischen, anarchistischen und feministischen Kräften in der Ukraine, Belarus und Russland nicht einmal diskutieren wollen. Sie nehmen diese offensichtlich nicht ernst.
Erinnern wir uns an die Anfänge der syrischen Revolution. Als im April 2011 die Menschen in Syrien äußerst diszipliniert und friedlich auf die Straße gingen, ließ Diktator Assad immer wieder in die Menge schießen. Schließlich zerbombte seine Armee ganze Städte. Das reichte jedoch nicht, um den Widerstandswillen der Menschen zu brechen. Putin und seine Generäle machten ab 2015 Aleppo und andere Städte dem Erdboden gleich. Das gleiche Personal verrichtet jetzt sein Zerstörungswerk in der Ukraine. Bekanntlich schwieg bereits damals ein Großteil der nur scheinbar antiimperialistischen Linken in Europa zu diesen Verbrechen.
Intellektuelle, Prominente und linke Gruppierungen in Deutschland fordern wiederholt einen sofortigen Waffenstillstand. Doch solange die Bedingungen eines solchen Waffenstillstands nicht benannt werden, läuft diese Perspektive auf die Annexion und Kolonisierung weiter Teile der Ukraine durch Russland hinaus.
Wer solche Forderungen erhebt, ignoriert, dass es die extreme Rechte – sowohl in Russland als auch in der Ukraine – wäre, die bei einem Sieg Russlands profitieren würde. Sie kontrolliert bereits den russischen Staat und würde den Sieg über die Ukraine entsprechend feiern und weitere Aggressionen vorbereiten. Die extreme Rechte in der Ukraine könnte ihre organisatorischen und militärischen Netze im bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungstruppen ausbauen. Dieses Szenario würde noch viel mehr als der gegenwärtige Krieg zu einem langen Krieg mit vielen Tausend Toten, Gefangenen, Deportierten und Gefolterten führen.
Gemeinsam eine globale solidarische und ökologische Perspektive entwickeln
Unsere Solidarität gilt dem bewaffneten und unbewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russischen Besatzungstruppen, ganz besonders unterstützen wir die Feminist:innen, Sozialist:innen und Anarchist:innen, die sich sowohl mit zivilen als auch militärischen Mitteln politisch eigenständig an diesem Widerstand beteiligen. Wir solidarisieren uns mit den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in der Ukraine, die sich der neoliberalen Wirtschaftspolitik widersetzen und stattdessen für einen sozialökologischen Wiederaufbau einstehen. Wir stehen selbstverständlich auch an der Seite der sozialistischen, feministischen und anarchistischen Kräfte in Russland und Belarus, die sich ihren Herrschern trotz großer Gefahren und Risiken mutig widersetzen.
Der Abzug aller russischen Truppen vom Territorium der Ukraine ist die Bedingung für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Erst auf dieser Grundlage kann ein Verständigungsprozess zwischen demokratisch gewählten Vertreter:innen der Regionen im Osten der Ukraine und der Regierung in Kyiv unter internationaler Beobachtung eröffnet werden. Wir stellen uns hinter die Forderungen emanzipatorischer Linker in der Ukraine und werden uns dafür einsetzen, dass die in den europäischen Ländern versteckten und angelegten russischen und ukrainischen Oligarchenvermögen zu identifizieren und für humanitäre Hilfe sowie den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden sind. Die Ukraine ist hochverschuldet. Der Krieg macht eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung unmöglich. Darum sind der Ukraine die Schulden zu erlassen.
Wir widersetzen uns zugleich dem Kapital in unseren Ländern, das weiterhin Geschäfte mit den Putin-Oligarchen betreibt und danach trachtet, bald zu einer Verständigung mit dem Putin-Regime auf Kosten der Ukraine zu kommen. Wir lehnen die jüngst beschlossenen und vorbereiteten Aufrüstungsprogramme in Westeuropa und der NATO ab. Diese dienen nicht dem Sieg der ukrainischen Bevölkerung in ihrem Existenzkampf gegenüber Russland, sondern eigenen längerfristigen imperialistischen Zielen in der Rivalität um Ressourcen. Wir sprechen uns für die Auflösung der NATO und des von Russland dominierten Militärbündnisses OVKS aus. Stattdessen sind wir für den Aufbau eines demokratischen und kollektiven Sicherheitssystems. Die Rüstungsindustrie in West und Ost ist kontinuierlich zurückzubauen und in gesellschaftlich nützliche und ökologisch verträgliche Industrien zu konvertieren.
Wir unterstützen die Forderung der Klimabewegung für einen Ausstieg aus dem russischen Öl und Gas als Schritt zum kompletten Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Es darf nicht länger zugelassen werden, dass das Putin-Regime seine Kriegs- und Zerstörungsmaschinerie mithilfe seiner Einnahmen aus der Plünderung und dem Export von Öl und Gas sowie mineralischen Rohstoffen finanziert. Den Preissteigerungen der Energie ist mit einer günstigen gesellschaftlichen Grundversorgung von Energie für Lohnabhängige, einer progressiven Preisgestaltung bei hohem Energieverbrauch und umfassenden Energiesparmaßnahmen entgegenzutreten.
Um diese Perspektive durchzusetzen, wollen wir gemeinsam mit der Klimabewegung und gewerkschaftlichen Basisinitiativen eine Bewegung zur gesellschaftlichen Aneignung und für den ökologischen Um- und Rückbau der großen fossilen Konzerne aufbauen. Das ist die Voraussetzung, um aus den fossilen Energieträgern auszusteigen.
Diejenigen, die jetzt einen Sieg Russlands in Kauf nehmen, tolerieren auch einen Sieg des globalen wie „heimischen“ fossilen und rohstoffbasierten Kapitals, das mit dem russischen fossilen und extraktiven Sektor eng verwoben ist. Deshalb muss eine neue antimilitaristische Bewegung die Solidarität mit dem zivilen wie bewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung sowie mit den ukrainischen, belorussischen und russischen Linken hochhalten, die sich dem Krieg des Putin-Regimes widersetzen.
Die Autor:innen sind ein Kollektiv sozialistischer Aktivist:innen aus der Ukraine, Russland, Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Ilya Budraitskis ist ein Historiker und Autor aus Moskau. Im Januar erschien von ihm das Buch »Dissidents among Dissidents« bei Verso Books. Gemeinsam mit anderen hat er im Exil das linke russische Medienprojekt, Posle, gegründet.
Oksana Dutchak ist Soziologin mit Schwerpunkt auf Arbeits- und Geschlechterverhältnissen und Redakteurin der linken ukrainischen Zeitschrift Commons.
Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler, Redakteur beim Westasiendossier der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redaktionsmitglied von emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.
Bernd Gehrke ist Zeithistoriker und engagiert sich im AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West. Er war aktiv in der linken Opposition zum SED-Regime in der DDR.
Eva Gelinsky ist Geografin, Agraraktivistin und Redaktionsmitglied von emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.
Renate Hürtgen beschäftigt sich als Historikerin unter anderem mit dem Wirken der Staatssicherheit im Alltag, vor allem auch in Betrieben der DDR. Sie war aktiv in der linken Opposition zum SED-Regime in der DDR.
Zbigniew Marcin Kowalewski ist stellvertretender Chefredakteur der polnischen Ausgabe von Le Monde Diplomatique. Er war in den Jahren 1980-81 Mitglied der regionalen Leitung der Gewerkschaft Solidarnosç in Lodz.
Natalia Lomonosova ist Soziologin und forscht in den Bereichen Sozialpolitik, Beschäftigung und Migration. Sie ist Mitherausgeberin des Mediums Politische Kritik Ukraine und Mitglied der demokratisch sozialistischen Organisation Sotsialnyi Rukh (soziale Bewegung) in der Ukraine.
Hanna Perekhoda ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne und aktiv im European network for solidarity with Ukraine. Sie stammt aus Donetsk.
Denys Pilash ist Politikwissenschafter, Redakteurin der linken ukrainischen Zeitschrift Commons und Mitglied der demokratisch sozialistischen Organisation Sotsialnyi Rukh (soziale Bewegung) in der Ukraine.
Zakhar Popovych ist Datenwissenschafter und Mitglied der demokratisch sozialistischen Organisation Sotsialnyi Rukh (soziale Bewegung) in der Ukraine.
Philipp Schmid ist Lehrer und aktiv in der Bewegung für den Sozialismus in der Schweiz.
Christoph Wälz ist Lehrer und aktiv in der GEW. Er hat in den ersten Kriegswochen zahlreiche Texte aus der russischen Linken übersetzt und über die russische Antikriegsbewegung berichtet. Dokumentiert unter linktr.ee/christophwaelz
Przemyslaw Wielgosz ist Autor und Journalist. Derzeit ist er Chefredakteur der polnischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.
Christian Zeller ist Professor für Wirtschaftsgeographie. 2020 veröffentlichte er das Buch »Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen«. Er ist Mitglied der Redaktion von emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie.
Bildquelle: Photo by Denis Stefanides on Unsplash, ein Tropfen Tinte in Wasser – wer genau hinsieht, erkennt ein anderes Bild
[1] Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf: Antimilitaristischer Defätismus. Junge Welt, 9. Juni 2022, S. 12. https://www.jungewelt.de/artikel/428135.krieg-in-der-ukraine-antimilitaristischer-def%C3%A4tismus.html
[2] Neues Deutschland 1993: St. Petersburger Politiker [Wladimir Putin] will Diktatur – Pinochet als Vorbild. Neues Deutschland 31.12.1993 https://twitter.com/ndaktuell/status/1496486724570161156
[3] Vladimir Putin: Ansprache des Präsidenten der Russischen Föderation vom 21.2.2022. https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/. Address by the President of the Russian Federation. The Kremlin, Moscow, February 21, 2022 http://en.kremlin.ru/events/president/news/67828
[4] Putin vergleicht sich mit Peter dem Großen. Die Zeit, 10. Juni 2022. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-06/wladimir-putin-krieg-ukraine-russland-vergleich-peter-der-grosse
[5] Berichte über Verschleppungen häufen sich. ORF, 6. Mai 2022 https://orf.at/stories/3263832/. Moskau: 230.000 ukrainische Kinder nach Russland gebracht. ORF, 19. Mai 2022. https://orf.at/stories/3266884/ Moskau: Fast zwei Millionen Ukrainer nach Russland gebracht. ORF, 18. Juni 2022. https://orf.at/stories/3271870/ 18. Juni. Krieg in der Ukraine: So ist die Lage. Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2022 https://www.sueddeutsche.de/politik/international-krieg-in-der-ukraine-so-ist-die-lage-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220618-99-708810
[6] Deutsche Welle: USA weiten Ausbildung des ukrainischen Militärs aus. 25.07.2015 https://www.dw.com/de/usa-weiten-ausbildung-des-ukrainischen-milit%C3%A4rs-aus/a-18606785
[7] Denys Shmyhal: Ukrainian PM: We need heavy weapons and budget support from the west. Financial Times, April 21, 2022. https://www.ft.com/content/8b6a2b9d-8dad-450d-b830-550ed8f080d1
[8] EU-Mitgliedsstaaten haben auch nach dem Embargo von 2014 Waffen nach Russland exportiert. Investigate Europe, 17. März 2022. https://www.investigate-europe.eu/de/2022/eu-staaten-exportierten-waffen-nach-russland/
[9] Tomas Malmlöf (2019): The Russian machine tool industry. Prospects for a turnaround? February 2019, FOI-R–4635—SE https://foi.se/report-summary?reportNo=FOI-R–4635–SE. Ben Aris (June 13, 2022): Russia’s sanctions soft underbelly: precision machine tools https://www.intellinews.com/long-read-russia-s-sanctions-soft-underbelly-precision-machine-tools-213024/. Kamil Galeev, 22. Juni 2022 https://twitter.com/kamilkazani/status/1539642021035487235
[10] Anthony Capaccio and Jordan Fabian: U.S: Prepares Massive New Surge of Military Aid to Ukraine. Bloomberg News 13. April 2022 https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-04-13/u-s-prepares-massive-new-surge-of-military-aid-to-ukraine
[11] Catie Edmondson and Emily Cochrane: The Senate overwhelmingly approves $40 billion in aid to Ukraine, sending it to Biden. The New York Times, May 19, 2022 https://www.nytimes.com/2022/05/19/us/politics/senate-passes-ukraine-aid.html
[12] Simon Pirani, 21. März 2022: Ukraine: the sources of danger of a wider war https://peopleandnature.wordpress.com/2022/03/21/ukraine-the-sources-of-danger-of-a-wider-war/
[13] Speech by NATO Secretary General Jens Stoltenberg at the Kultaranta talks in Finland, 12 Jun. 2022. “We know that there is a very close link between what you can achieve at the negotiating table and your position at the battlefield. So our military support to them is a way to strengthen their hand at the negotiating table when they, hopefully soon, will sit there and negotiate the peace agreement. So that was ‘peace is possible’ – that’s not the question anyway, the question is: what price are you willing to pay for peace? How much territory? How much independence? How much sovereignty? How much freedom? How much democracy are you willing to sacrifice for peace?” https://www.nato.int/cps/fr/natohq/opinions_196300.htm
[14] Hans-Jürgen Jacobs: VW-Chef als Kundschafter des Friedens. Handelsblatt, 10. Mai 2022 https://www.handelsblatt.com/meinung/morningbriefing/morning-briefing-vw-chef-als-kundschafter-desfriedens/28319740.html
[15] Ein Interview von Simon Hage und Martin Hesse: »Das Letzte, was wir brauchen, ist eine Lagerbildung in der Welt« Der Spiegel, 2. Juni 2022. https://www.spiegel.de/wirtschaft/basf-chef-brudermueller-das-letzte-was-wir-brauchen-ist-eine-lagerbildung-in-der-welt-a-7f740f98-3624-4424-9c8e-e4c3f36ffd5a
[16] Christina Neuhaus: Ein Deal mit Putin? Magdalena Martullo und der Elefant im Raum. Neue Zürcher Zeitung, 27. Juni 2022 https://www.nzz.ch/ein-deal-mit-putin-magdalena-martullo-und-der-elefant-im-raum-ld.1690932?reduced=true
[17] Arno Schütze, Catiana Krapp, Bert Fröndhoff, Anja Müller, Florian Kolf, Maike Telgheder, Stefan Menzel: Warum sich deutsche Firmen nicht mal eben aus Russland zurückziehen können. Handelsblatt, 9. Juni 2022 https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/ukraine-krieg-warum-sich-deutsche-firmen-nicht-mal-eben-aus-russland-zurueckziehen-koennen/28388514.html
[18] Etienne Balibar: Im Krieg: Nationalismus, Imperialismus, Kosmopolitik. Emanzipation, 26. Juli 2022 https://emanzipation.org/2022/07/im-krieg-nationalismus-imperialismuskosmopolitik/ Ursprünglich auf Englisch: In the War: Nationalism, Imperialism, Cosmopolitics. Commons Journal, 29.06.2022 https://commons.com.ua/en/etienne-balibar-on-russo-ukrainian-war/
[19] ORF, 28. Juni 2022: Kreml: Russland würde bei Kapitulation Offensive stoppen. https://orf.at/stories/3273463/
Ukrainischen Widerstand unterstützen und fossiles Kapital entmachten [Kurzfassung in A & K 684]
Ilya Budraitskis,Harald Etzbach, Oksana Dutchak, Bernd Gehrke, Renate Hürtgen, Zbigniew Marcin Kowalewski, Natalia Lomonosova, Hanna Perekhoda, Denis Pilash, Sakhar Popovich, Christoph Wälz, Przemyslaw Wielgocz, Christian Zeller
Am 9. Juni veröffentlichten Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf in der Jungen Welt eine ausführliche Stellungnahme, in der sie sich für einen „antimilitaristischen Defätismus“ und für die Aufgabe des militärischen Widerstandes der Ukraine gegen den russischen Besatzungskrieg aussprachen. Wir nehmen ihren Artikel zum Anlass für eine grundsätzliche Entgegnung über eine notwendige antiimperialistische und auf globale Solidarität verpflichtete ökosozialistische Perspektive. Wir sind entsetzt darüber, wie sie sich in diesem Artikel die Kriegsrealität zurechtbiegen und letztlich im Sinne des Oligarchenregimes Putins argumentieren. Paternalistisch empfehlen sie der ukrainischen Bevölkerung, sie solle sich der russischen Besatzung unterwerfen, um den Krieg zu beenden. Die Autoren nehmen nicht den geringsten Bezug auf sozialistische, feministische und anarchistische Kräfte in der Ukraine und Russland. Sie argumentieren aus einer ausgesprochen deutschen Perspektive. Damit sind sie nicht allein. Viele Stellungnahmen der alten Friedensbewegung wenden sich gegen die „Eskalation des Westens“ und „vergessen“, dass Russland schon längst eskaliert hat und die ukrainische Gesellschaft systematisch zunichtemachen will. Die Stellungnahme der fünf Autoren zielt derart weit an einer solidarischen antiimperialistischen Perspektive vorbei, dass wir es für angemessen halten, unsere Argumente dagegen zu setzen.
Umkehr der Verantwortung
Die Stellungnahme der Autoren liest sich wie viele Beiträge aus der alten Friedensbewegung und einer einseitigen scheinbar antiimperialistischen Linken. Selbstverständlich verurteilen sie am Anfang des Textes die Invasion in der Ukraine „ohne jede Einschränkung oder Relativierung“. Doch anschließend tun sie genau das: Sie relativieren die Aggression der Putin-Oligarchie. Unter dem Titel „An Waffenstillstand kein Interesse“ erklären sie ausführlich, warum die NATO noch viel schlimmer als Russland sei, und dass der Westen, allen voran die USA, keinen frühen Waffenstillstand wolle, sondern primär das ukrainische Schlachtfeld nutze, um Russland zu schwächen.
Die fünf Autoren drehen die Verantwortung für den Krieg um. Nicht Putin, der in aller Offenheit wiederholt jeden Waffenstillstand jenseits einer Kapitulation der Ukraine abgelehnt hat, sei für den andauernden Krieg verantwortlich, sondern das „Regime“ in Kiew, das noch eine Woche vor dem Beginn des russischen Angriffs Verhandlungen über eine Neutralität angeboten hatte. Sie schreiben, dass das „Kiewer Regime von vornherein die militärische Antwort auf die Invasion gewählt hat und es auch Anfang Juni keine Bemühungen um einen Waffenstillstand erkennen lässt“. Nicht das Putin-Regime, das wiederholt erklärte, es werde den Zerstörungs- und Zermürbungskrieg bis zur Kapitulation der Ukraine weiterführen, sondern die Ukraine, die verzweifelt um Waffen zur Selbstverteidigung bittet, sei dafür verantwortlich, dass die Zerstörung des eigenen Landes andauert. Die Autoren geißeln die angebliche Hochrüstung der Ukraine durch den Westen, sie erwähnen jedoch mit keinem Wort, dass Russland seinen Eroberungsfeldzug nur nach einer langen politischen, wirtschaftlichen, logistischen und militärischen Vorbereitung begonnen hat.
Hinter dieser Umkehr der Verantwortung steht eine grundsätzliche Fehleinschätzung des Putin-Regimes, dessen Charakter die fünf Autoren nicht ansatzweise näher zu bestimmen versuchen. Im Gegenteil, sie setzen die protofaschistische Putin-Diktatur mit der korrupten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in der Ukraine gleich. Für die Autoren sind es ganz einfach „zwei bürgerliche Staaten, beide durch ein Oligarchensystem bestimmt“.
Das Putin-Regime bestreitet die Existenz einer ukrainischen Nation
Der Kreml will jede eigenständige Entwicklung der Ukraine verhindern. Die Putin-Führung betrachtet die Ukraine zusammen mit Belarus als Teil von Russland. Die Unabhängigkeit der Ukraine steht im Widerspruch zu den vermeintlichen historischen Ansprüchen Russlands. Die russische Führung hat nicht auf den einen oder anderen Schachzug der NATO reagiert, sie verfolgt mit ihrem Krieg vielmehr grundsätzliche Ziele, die sie mit ihrer großrussischen Ideologie begründet. Wiederholt stellen sich Putin und Exponent:innen seines Regimes in die historische Kontinuität des Zarenreichs und schließen damit die Existenz einer eigenständigen ukrainisch-nationalen Kultur und Identität aus.
Die Ziele der russischen Führung sind also grundsätzlich und weitreichend. Putins Kriegsführung entspricht diesem Kriegsziel: die Zerstörung der Ukraine als unabhängiges Land und die Eingliederung als „Kleinrussland“. Systematisch werden Städte und Dörfer zerstört, die Bevölkerung terrorisiert und vertrieben. In den besetzten Gebieten errichtet die russische Staatsmacht ein Terrorregime, gliedert die Schulen in das russische Schulsystem ein, lässt nur noch russische Medien zu und verordnet den Rubel als Zahlungsmittel. Bis zum 20. Juni brachte Russland über 1,9 Millionen Ukrainer:innen nach Russland, darunter 300 000 Kinder. Tausende Ukrainer:innen harren in Lagern in Ostsibirien aus, weit von der Ukraine entfernt.
Der sowohl für die Regierungen der USA und Europas als auch für das Putin-Regime überraschend starke Widerstand der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen verhinderte eine rasche Besatzung des Landes und die Einsetzung einer prorussischen Marionettenregierung. Es war dieser Volkswiderstand in der Ukraine, der alle Akteur:innen vor eine neue Situation stellte. Die ukrainischen Oligarchen mussten sich hinter den Widerstand und gegen Russland stellen. Die Regierungen Europas und der USA mussten ihre Einschätzung, dass die Ukraine rasch einbrechen werde, korrigieren. Putin sah sich gezwungen, seine Kriegsstrategie der neuen Situation anzupassen.
Zugleich verbindet das Putin-Regime den Krieg mit einem „Werte-Kampf“ gegen den dekadenten Westen. Es will demokratische Rechte, Errungenschaften der Arbeiter:innen-, Frauen- und Homosexuellenbewegung zurückdrängen, nicht nur in Russland, sondern auch in den Gebieten unter seinem Einfluss. Russland finanziert und fördert rechtsextreme Parteien in ganz Europa. Das Putin-Regime ist die bewunderte Speerspitze einer reaktionären bis faschistischen Bewegung von Jair Bolsonaro in Brasilien, Marine Le Pen in Frankreich und der AfD in Deutschland.
Ukrainischer Widerstand bringt Waffenlieferungen auf die Tagesordnung
Erst der entschlossene und aufopferungsvolle Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die Besatzungstruppen stellte die NATO-Länder vor die Frage umfassender Waffenlieferungen. Unmittelbar nach Kriegsbeginn rieten die Regierungen der USA und Großbritanniens dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj, das Land zu verlassen und boten ihm Schutz an. Wie die Führung im Kreml erwarteten sie eine rasche Niederlage der Ukraine. Sie haben sich alle im Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung geirrt. Sie gingen davon aus, dass die europäischen und US-amerikanischen Konzerne nach einer Welle der Entrüstung und Wirtschaftssanktionen ihre Geschäfte mit Russland wieder normalisieren würden.
Die zähe Abwehr der Ukraine und die militärischen Schwierigkeiten der russischen Besatzungstruppen eröffnete den Regierungen der NATO-Länder die Chance, durch massive Waffenlieferungen an die Ukraine, Russlands militärische und geopolitische Position zu schwächen. Die kämpfenden Menschen in der Ukraine sind demnach nicht die Vollstrecker:innen eines imperialistischen Plans, sondern sie kämpfen für ihre legitimen Ziele und Rechte in der ukrainischen Gesellschaft, sie kämpfen um ihre Existenz als Ukrainer:innen.
Bis zum Ausbruch des Krieges kann nicht von einer Hochrüstung der Ukraine durch die NATO gesprochen werden. Die Ukraine erhielt von 2014 bis 2022 4 Milliarden USD Militärhilfe durch die USA. Seit mindestens 2015 bildete die US-Armee auch ukrainische Truppen aus, allerdings in relativ geringem Ausmaß. Doch ein Großteil der militärischen Unterstützung floss erst nach Kriegsbeginn. Von 2014 bis 2021 betrug die direkte Militärhilfe 2,4 Milliarden US Dollar. Die deutschen Waffenexporte an die Ukraine waren bislang relativ gering, ungleich größer waren die deutschen Waffenexporte seit 2014 – trotz Embargo – an Russland und sogar bis in jüngste Zeit.
Mitte April kündigte Präsident Biden ein weiteres Militärhilfeprogramm für die Ukraine im Wert von 750 Mio. USD an. Schließlich verabschiedete der Senat am 19. Mai ein 40-Milliarden Programm zur militärischen und humanitären Unterstützung der Ukraine, was dies zum größten Hilfspaket im Ausland seit mindestens zwei Jahrzehnten machte. Damit hat das Engagement der USA und der NATO eine umfassende Dimension angenommen. Die US-Regierung erklärt offen, dass sie die russischen Militärkapazitäten substanziell schwächen will. Dasselbe Ziel verfolgt naheliegenderweise auch die ukrainische Regierung.
Die Interessen der USA und Westeuropas
Die Regierungen Europas und der USA sind für die Zuspitzung der geopolitischen Spannungen mitverantwortlich, allerdings nicht wegen der angeblichen NATO-Einkreisung Russlands, die die russische Propaganda an die Wand malte und die viele Linke in Europa ganz billig übernommen haben. Vergessen wird dabei, das die Ausdehnung der NATO mit dem Beitritt von Nachbarländern Russlands bis 2004 im Wesentlichen abgeschlossen war, vergessen wird vor allem, dass zahlreiche Länder Osteuropas eine NATO-Mitgliedschaft nicht aus Freude an militärischer Aufrüstung, sondern aus Angst vor einem erstarkenden russischen Revanchismus anstrebten.
Die eigentliche Mitverantwortung der NATO-Staaten für die Verschärfung der Widersprüche liegt an ihrem ökonomischen Interesse an den ehemaligen Sowjetrepubliken. Das Kapital in den imperialistischen Ländern Europas und Nordamerikas suchte nicht nur neue NATO-Mitglieder, sondern wollte primär weitere Märkte erschließen und günstige Rohstoffe beziehen. Dafür brauchte es Regierungen, die den gesellschaftlichen Transformationsprozess ordentlich und notfalls auch mit Gewalt organisieren konnten.
Die westlichen imperialistischen Mächte, allen voran die USA und Großbritannien, haben mit dem zunächst erfolgreichen Widerstand der Ukraine gegen die russischen Besatzungstruppen die Chance erkannt, mit einer Stärkung der militärischen Möglichkeiten der Ukraine die geopolitische Position Russlands substanziell zu schwächen. Die NATO-Führung scheint allerdings weder an einem langen Krieg noch an seiner Eskalation interessiert zu sein. NATO-Generalsekretär Stoltenberg erklärte am 12. Juni bei einem Treffen in Finnland den Abwägungsprozess: Irgendwann werde die Ukraine bekanntgeben müssen, in welche territorialen Verluste sie einwilligen und auf welche demokratischen Rechte die Bevölkerung zu verzichten bereit sei.
Zugleich ist offensichtlich, dass wesentliche Länder in Europa, u.a. Deutschland und Frankreich, aber auch Österreich und die Schweiz, die Ukraine nur begrenzt unterstützen. Sie streben eine Verständigung mit der russischen Oligarchie an. Weder liefern sie wirklich die erforderlichen Waffen, noch entlasten sie die ausgeblutete ukrainische Gesellschaft mit einem Erlass der Schulden. Wesentliche Kapitalfraktionen in Europa, vor allem jene, die mit den fossilen Industrien (Deutschland, Österreich) und mit dem internationalen Rohstoffhandel (Schweiz) verbunden sind, haben jahrelang höchst profitable Geschäfte mit den Putin-Oligarchen betrieben. Sie würden gerne rasch zur Normalität zurückkehren und diese Geschäfte wieder aufnehmen. Russland ist ein ungleich wichtigerer Markt als die Ukraine. Zahlreiche Äußerungen großer Konzernchefs zeigen, dass weite Teile des Kapitals ebenfalls kein Interesse an einem langen Krieg haben. Die Regierungen versuchen über kurz oder lang, sich mit Putin darüber zu verständigen, wie sich die Welt der Märkte wieder öffnen lässt.
Der Charakter des Kriegs
Die fünf Autoren des Beitrags in der Jungen Welt wollen die defätistische Position von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Wladimir Lenin im Ersten Weltkrieg auf den gegenwärtigen russischen Besatzungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung anwenden. Die Analogie zu den Debatten in der Arbeiter:innenbewegung während des Ersten Weltkriegs biegt die Geschichte zurecht. Angemessener wäre ein kritisches Nachdenken über die Berechtigung antikolonialer Kämpfe. Schließlich ist die Ukraine kein imperialistisches Land und drohte auch nicht, andere Länder anzugreifen. Die Ukraine ist vielmehr ein junges Land, dessen Unabhängigkeit und eigene Nationenbildung Russland nicht akzeptiert und deshalb seit 2014 militärisch angreift. Das Putin-Regime möchte die Ukraine abermals als innere Kolonie in ein großrussisches Imperium integrieren, wie das schon unter den Zar:innen der Fall war.
Die ukrainische Bevölkerung führt also keinen „Stellvertreter-Krieg“ der NATO gegen Russland, sondern kämpft für ihre eigene Unabhängigkeit sowie für demokratische und soziale Rechte, die sie unter russischer Besatzung allesamt verlieren würde. Die Situation in den sogenannten Volksrepubliken im Donbas ist als wahrscheinliche Perspektive unter einem Besatzungsregime Drohung genug.
Selbstverständlich lässt sich der Krieg nur im Kontext der internationalen Rivalität zwischen den großen imperialistischen Mächten verstehen. Die USA und die NATO-Länder bereiten sich mit ihrer bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gestarteten Aufrüstungsoffensive auf mögliche militärische Konflikte mit China und den verschärften Kampf um Rohstoffe und ökologische Senken vor. Daher ist es naheliegend, dass die USA und die europäischen Mächte den Krieg in der Ukraine strategisch für ihre Ziele nutzen wollen.
Aus unserer Analyse folgern wir, dass die Ukraine das Recht hat, sich Waffen zu beschaffen, wo immer sie diese erhält. Die USA und europäische Regierungen liefern in einem wohl dosierten Ausmaß Waffen, allerdings aus ihrer eigenen Motivlage heraus. Möglicherweise werden die Regierungen der westlichen Imperialismen die Ukraine über kurz oder lang dazu zwingen, im Rahmen einer „Verhandlungslösung“, die Souveränität über weite Landesteile im Osten und Süden aufzugeben und damit eine Teilniederlage zu akzeptieren. Insofern stehen jene, die jetzt nach sofortigen Verhandlungen rufen, gar nicht so weit entfernt von „ihren“ imperialistischen Regierungen.
Überhebliche Empfehlung zur Kapitulation und „sozialen Verteidigung“
Die Autoren empfehlen der Ukraine und damit auch ukrainischen Linken, Gewerkschaften oder anderen emanzipatorischen Bewegungen kaum verhohlen die Kapitulation. Meinen sie ernsthaft, dass sich unter den Bedingungen einer militärischen Besatzungsdiktatur und massenhafter Deportation von potentiellen Oppositionellen eine lebendige Zivilgesellschaft oder gar kämpferische Gewerkschaften herausbilden können? Sollen die russischen Truppen auf diese Weise friedlich zum Abzug bewegt werden? Diese Vorstellung ist grotesk und absurd und die daraus abgeleiteten Empfehlungen an die Menschen in der Ukraine sind paternalistisch und neokolonial.
Die Autoren nehmen die vom Putin-Regime selber offen formulierten Kriegsziele einer Zerstörung der ukrainischen Gesellschaft nicht ernst. Darum stellen sie verfehlte historische Analogien her. Ihre Vergleiche mit Erfahrungen des „friedlichen“ Widerstands gegen den Kapp-Putsch 1920, die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Streitkräfte 1923 und des friedlichen Widerstands der tschechoslowakischen Demokratiebewegungen gegen die sowjetischen Truppen 1968 sind absurd. Sie gehen darüber hinweg, dass das Putin-Regime die Existenz einer eigenständigen Ukraine und eine ukrainische Nationenbildung in Frage stellt. Sie verkennen die systematisch auf ethnische Säuberung angelegte Kriegsführung des russischen Imperialismus. Die fünf Autoren demonstrieren mit dieser ignoranten Überheblichkeit, dass sie mit den sozialistischen, anarchistischen und feministischen Kräften in der Ukraine, Belarus und Russland nicht einmal diskutieren wollen. Sie nehmen diese offensichtlich nicht ernst.
Intellektuelle, Prominente und linke Gruppierungen in Deutschland fordern wiederholt einen sofortigen Waffenstillstand. Doch solange die Bedingungen eines solchen Waffenstillstands nicht benannt werden, läuft diese Perspektive auf die Annexion und Kolonisierung weiter Teile des Landes durch Russland hinaus.
Wer solche Forderungen erhebt, scheint zu ignorieren, dass es die extreme Rechte – sowohl in Russland als auch in der Ukraine – wäre, die bei einem Sieg Russlands profitieren würde. Sie kontrolliert bereits den russischen Staat und würde den Sieg über die Ukraine entsprechend feiern und weitere Aggressionen vorbereiten. Die extreme Rechte in der Ukraine könnte ihre organisatorischen und militärischen Netze im bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungstruppen ausbauen. Dieses Szenario würde noch viel mehr als der gegenwärtige Krieg zu einem langen Krieg mit vielen Tausend Toten, Gefangenen, Deportierten und Gefolterten führen.
Gemeinsam eine globale solidarische und ökologische Perspektive entwickeln
Unsere Solidarität gilt dem Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russischen Besatzungstruppen, ganz besonders unterstützen wir die Feminist:innen, Sozialist:innen und Anarchist:innen, die sich sowohl mit zivilen als auch militärischen Mitteln politisch eigenständig an diesem Widerstand beteiligen. Wir solidarisieren uns mit den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in der Ukraine, die sich der neoliberalen Wirtschaftspolitik widersetzen und stattdessen für einen sozialökologischen Wiederaufbau einstehen. Wir stehen selbstverständlich auch an der Seite der sozialistischen, feministischen und anarchistischen Kräfte in Russland und Belarus, die sich ihren Herrschern trotz großer Gefahren und Risiken mutig widersetzen.
Der Abzug aller russischen Truppen vom Territorium der Ukraine ist die Bedingung für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Erst auf dieser Grundlage kann ein Verständigungsprozess zwischen demokratisch gewählten Vertreter:innen der Regionen im Osten der Ukraine und der Regierung in Kyiv unter internationaler Beobachtung eröffnet werden. Wir stellen uns hinter die Forderungen emanzipatorischer Linker in der Ukraine und werden uns dafür einsetzen, dass die in den europäischen Ländern versteckten und angelegten russischen und ukrainischen Oligarchenvermögen zu identifizieren und für humanitäre Hilfe sowie den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden sind. Die Ukraine ist hochverschuldet. Der Krieg macht eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung unmöglich. Darum sind der Ukraine die Schulden zu erlassen.
Wir widersetzen uns zugleich dem Kapital in unseren Ländern, das weiterhin Geschäfte mit den Putin-Oligarchen betreibt und danach trachtet, bald zu einer Verständigung mit dem Putin-Regime auf Kosten der Ukraine zu kommen, und lehnen selbstverständlich weiterhin jedes Aufrüstungsprogramm unserer Länder in Europa und allen NATO-Ländern ab. Wir sprechen uns für die Auflösung der NATO und der anderen Militärbündnisse sowie für den kontinuierlichen Rückbau der Rüstungsindustrie aus. Wir wissen, dass die Aufrüstung der NATO nicht dem Sieg der ukrainischen Bevölkerung in ihrem Existenzkampf gegenüber Russland dient, sondern eigenen imperialistischen Zielen.
Wir unterstützen die Forderung der Klimabewegung für einen Ausstieg aus dem russischen Öl und Gas als Schritt zum kompletten Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Es darf nicht länger zugelassen werden, dass das Putin-Regime seine Kriegs- und Zerstörungsmaschinerie mithilfe seiner Einnahmen aus der Plünderung und dem Export von Öl und Gas sowie mineralischen Rohstoffen finanziert. Den Preissteigerungen der Energie ist mit einer günstigen gesellschaftlichen Grundversorgung von Energie für Lohnabhängige, einer progressiven Preisgestaltung bei hohem Energieverbrauch, einem Energie-Preisdeckel und umfassenden Energiesparmaßnahmen entgegenzutreten.
Um diese Perspektive durchzusetzen, muss eine Bewegung – gemeinsam mit der Klimabewegung und gewerkschaftlichen Basisinitiativen – zur gesellschaftlichen Aneignung sowie dem ökologischen Um- und Rückbau der großen fossilen Konzerne entstehen. Das ist die Voraussetzung, um aus den fossilen Energieträgern auszusteigen. Diejenigen, die jetzt einen Sieg Russlands in Kauf nehmen, tolerieren auch einen Sieg des „heimischen“ fossilen und rohstoffbasierten Kapitals, das mit dem russischen fossilen und extraktiven Sektor eng verwoben ist. Deshalb muss eine neue antimilitaristische Bewegung die Solidarität mit dem zivilen wie bewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung sowie mit den ukrainischen, belorussischen und russischen Linken hochhalten, die sich dem Krieg des Putin-Regimes widersetzen.
Quelle: Analyse & Kritik |ak 684 | Diskussion; https://www.akweb.de/bewegung/ukraine-krieg-internationalismus-fuer-einen-solidarischen-antiimperialismus/
Über den russischen Neo-Imperialismus*
Bernd Gehrke**
Für Boris Romanchenko1
Eine solche Blamage linker Positionen gab es selten: Mit dem Aggressionskrieg Russlands gegen die unabhängige Ukraine wurde die noch kurz zuvor von vielen und prominenten Linken geäußerte Einschätzung ad absurdum geführt, dass, trotz des militärischen Säbelrasselns an den Grenzen der Ukraine, von Russland keinerlei Kriegsgefahr ausgehe. Die wichtigsten Akteure der deutschen Friedensbewegung haben ihren Irrtum öffentlich eingeräumt, eine faire Diskussion mit ihnen ist deshalb möglich. Doch darüber, was die Gründe für diese fundamentale Fehleinschätzung waren, ist bisher kaum diskutiert worden.
Eine der wohl wichtigsten Ursachen für die Fehleinschätzung ist die mangelnde Beschäftigung mit dem aggressiven Charakter des russischen Gegenwartskapitalismus. Diese Beschäftigung ist jedoch nicht nur wegen des aktuellen Krieges gegen die Ukraine und der erneut sichtbar gewordenen Gefahr eines Atomkrieges notwendig. Denn die vorhergegangene Zerschlagung der politischen Opposition in Russland und die zunehmende Repression des Putin-Regimes während des Krieges, birgt die Gefahr, dass sich das Regime von der bisherigen autoritären Präsidialherrschaft zum offen totalitär-faschistischen Regime entwickelt, wie der russische Soziologe Greg Yudin jüngst feststellte.2 So ist in der Flut von Kriegsmeldungen fast völlig untergegangen, dass Sicherheitskräfte stundenlang die Räume der Ende 2021 verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau kurz nach Kriegsbeginn besetzten und zahlreiche Unterlagen und Computer beschlagnahmten. Angesichts des Krieges in der Ukraine und der zahlreichen Verbrechen gegenüber der russischen Zivilgesellschaft, scheint dieser Vorgang fast harmlos. Doch macht dieser Vorgang wie schon das Verbot von Memorial selbst deutlich, dass hier ein Angriff auf jegliche Voraussetzung von gesellschaftlicher Selbstorganisation erfolgt: auf die Diskussion eigenständiger Geschichts- und Gesellschaftserzählungen zugunsten einer totalitären Herrschaftsideologie.
Zugleich aber stellt die gleichsam ausweglose ökonomische Situation, in die der Überfall auf die Ukraine den russischen Kapitalismus gebracht hat, eine erhebliche Gefahr nicht nur für die russische Opposition dar. Eine Radikalisierung und zunehmende Gewalttätigkeit des Putin-Regimes nach innen und außen sind zu befürchten. Dabei sind die bisher schon verkündeten außenpolitischen Ziele Russlands bedrohlich genug für seine Nachbarn und für Europa insgesamt.
Miniaturen des russischen Wildost-Kapitalismus
Heute verkörpert das Putin-Regime nicht nur ganz offen die erzreaktionäre Ideologie der globalen Neuen Rechten in Kultur- und Innenpolitik, heute liegt auch die brutale Realität eines autoritär-repressiven und neoliberalen Wildost-Kapitalismus mit all seinen Hässlichkeiten klar vor aller Augen. Die innere Verfasstheit Russlands sollte eine Täuschung über den Charakter russischer Aussenpolitik unmöglich machen. Sollte, wäre da nicht das Wegschauen vieler Linker.
So diskutieren die deutschen Linken kaum über den Charakter des russischen Wildost-Kapitalismus, dessen Brutalität sich wenig von dem des Wildwest-Kapitalismus etwa in den Schwellenländern des Südens unterscheidet. Das Lebensniveau der Lohnarbeitenden ist weitaus geringer als im Westen und zeigt, dass Russland immer noch ein Land der Zweiten Welt ist. Zudem ist es ein Land mit einem extremen Gegensatz von Armut und Reichtum, wobei jener kleinen Schicht von ein Prozent Superreichen eine riesige Welt der Armen gegenübersteht. Die sogenannte Mittelschicht umfasst dagegen maximal zehn Prozent der Bevölkerung. Eine der ersten Maßnahmen nach Putins Amtsantritt als Präsident war die Einführung einer neoliberalen Flattax von nur 13 Prozent auf die Einkommen und die Durchführung verschiedener Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen.
Zum täglichen Existenzkampf in den Großstädten mit ihren massenhaften prekären Jobs, die ebenso wie die Baustellen des Landes von den migrantischen Billiglöhner:innen aus dem russischen Hinterhof in Mittelasien gefüllt werden, gehört der Druck auf kämpferische Gewerkschaften durch die Phalanx von Staat und Kapital. Für diese dramatische Situation der arbeitenden Klassen in Russland, die der Situation in anderen Schwellenländern ähnelt, haben sich Linke bisher wenig interessiert; ebenso wenig für das Landgrabbing und den in riesiger Dimension betriebenen Raubbau an der Natur, der von Gewaltaktionen und Todesdrohungen gegen Öko-Aktivist:innen und sich wehrende Kleinbäuer:innen begleitet wird. Es gibt mit der „Alternative“ sogar eine kleine Gewerkschaft, deren Ziel die Befreiung von Menschen aus privater Sklavenhaltung ist.
Der Korruptionssumpf von politischer Macht, Polizei, Justiz und Kapital bei der Ausbeutung von Mensch und dem Raubbau an der Natur macht nicht nur den kleptokratischen Charakter der Verbindung von autoritärem Staatsapparat und realem Wildost-Kapitalismus deutlich. Er erklärt auch die vielen Morde an investigativen Journalist:innen. Staatliche Schutzgesetze für Mensch und Natur, so sie vorhanden sind, sind zumeist nur wohlfeiles Beiwerk für die oft unmittelbar gewaltförmige Durchsetzung von Kapitalinteressen.
Das Beispiel VW und der Klassenkampf von oben
Westliche Multis wie Coca Cola und VW verhalten sich in Russland nicht anders als etwa in Mexiko. So legte 2019 das VW-Management in den Verhandlungen mit zwei Betriebsgewerkschaften einen Lohnabschluss unterhalb der Inflationsrate vor. Als eine der beiden Gewerkschaften, die zur unabhängigen Konföderation der Arbeit (KTR)3 gehörende MPRA, die 38 Prozent der Belegschaft in der Tarifkommission vertreten hatte, mit einer Unterschriftensammlung in der Belegschaft deren Meinung einzuholen begann, wurde diese vom VW-Management auf dem Werksgelände verboten. Als die Unterschriftensammlung vor dem Betriebstor fortgesetzt wurde, beschuldigte VW die Gewerkschafter:innen des „Terrorismus“ und rief die Polizei. Das regionale Arbeitsministerium verbot danach in Absprache mit dem Gouverneur gegen bestehende gesetzliche Rechte der Gewerkschaften die Unterschriftenaktion.4 Diese Praxis der Kumpanei des deutschen Vorzeige-Konzerns mit autoritären Regimen kennen wir seit langem, Brasilien oder Apartheid-Südafrika seien exemplarisch genannt.
Dieser Vorfall wurde zu einer Art Auftakt eines Großangriffs des russischen Staates und des hinter ihm stehenden Kapitals auf die Selbstbestimmungsrechte der abhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften im folgenden Jahr. Am 23. Mai 2020 beschloss die Staatsduma die Abschaffung des bisherigen Arbeitsgesetzes. Darin war die autonome Aushandlung der Arbeitsbeziehungen durch Unternehmen und Gewerkschaften verankert. An deren Stelle trat nunmehr ein „in der Welt einzigartiges Gesetz“, wie Oleg Shein, der Vizevorsitzende der KTR, schrieb. In dieser Neufassung werden jetzt die Arbeitsbeziehungen „durch staatliche Vorschriften geregelt“ und im Falle eines „Konflikts zwischen dem Arbeitsgesetzbuch und Regierungsbeschlüssen“ hat nunmehr „die Entscheidung der Regierung Vorrang“.5
Kämpferische Gewerkschafter:innen, die sich internationalistisch-solidarisch betätigen, sind zudem durch das Gesetz über „ausländische Agenten“ immer stärker bedroht, das auch gegen Memorial und andere Menschenrechtsgruppen angewandt wurde.6
Nomenklatura-Kapitalismus
Um das Agieren des Putin-Regimes zu verstehen, gilt es, sich die Genesis des heutigen russischen Kapitalismus zu vergegenwärtigen und an seine Entstehung aus der despotisch geprägten ehemals herrschenden „kommunistischen“ Nomenklatura zu erinnern. Nach dem gescheiterten Putsch der sowjetischen Sicherheitsapparate im August 1991 leitete Präsident Boris Jelzin eine Schockstrategie der Liberalisierung und der Hauruck-Privatisierung des sowjetischen Staatseigentums ein. Das erklärte Ziel war die rasche Schaffung einer privaten „Eigentümerklasse“, um so die Unumkehrbarkeit des kapitalistischen Weges in Russland zu sichern. Die Folge dieser Politik war eine dramatische Vertiefung der schon vorhandenen Sozial- und Wirtschaftskrise mit katastrophalen Folgen für das Leben der meisten Bürger:innen Russlands. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern sank auf 63,7 Jahre, in Moskau durchwühlten Rentner:innen die Mülltonnen nach Essbarem, im Zuge der Privatisierung wohnungslos gewordene Menschen zelteten auf dem Roten Platz, Löhne wurden monatelang nicht ausgezahlt und Bergarbeiter:innen streikten für ein Stück Seife.
Die Privatisierung des Staatseigentums verlief weitgehend auf kriminellen Wegen. Durch Tricks, Betrug, Korruption und Gewalt gelangten Betriebe und Banken sehr schnell „in die Taschen“ ehemaliger „roter Direktoren“ und anderer Angehöriger der „kommunistischen“ Nomenklatura. In kürzester Zeit entstanden Milliarden-Vermögen in diesen „Gründerjahren“ der Oligarchen-Macht. Mafiosi halfen dabei ebenso fleißig wie entlassene KGB-, Armee- und Polizeiangehörige. So entstand ein korruptes und kriminelles Netzwerk von ehemaligen Direktoren, Sicherheitsleuten und Mafiosi, die mit blutigen Methoden die weitere Umverteilung des ehemaligen Staatseigentums in den 1990er Jahren betrieben. Die 1990er Jahre in Russland glichen den Mafia-Auseinandersetzungen im Chicago der 1930er Jahre, wie anhand vieler Beispiele, etwa in den Büchern der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, nachgelesen werden kann. Schnell war der treffende Begriff für das entstandene System gefunden: „Nomenklatura-Kapitalismus“, ein Kapitalismus, der aus der Aufteilung des vorherigen Staatseigentums unter die ehemalige „kommunistische“ Nomenklatura, entstanden war.7
Zaren, Stalin, Putin
Es ist schon verblüffend, wenn einige Linke den von der globalen extremen Rechten bewunderten Wladimir Putin als armes Opfer des Westens ansehen, jenen Putin, der nach Steve Bannon und seinen rechtsradikalen US-Compagnons nicht „woke“ sei und „die Eier habe“, sich mit dem dekadenten Westen anzulegen. Anscheinend sind Putin verteidigende Linke Gefangene eigener Symbolpolitik, da das Putin-Regime sowjetische Symbole des Sieges über Hitlerdeutschland oder der Entnazifizierung verwendet, zumal jetzt im Krieg gegen die Ukraine. Das scheint ins linke Weltbild zu passen. Doch wird dabei übersehen, dass die Flaggen der sowjetischen Kriegsmarine gern auch an den Masten russischer Milliardärs-Yachten flattern und dass das Putin-Regime neben sowjetischen Symbolen vor allem auch jene des Zarismus verwendet. Wer mit nüchternem Blick hinschaut kann feststellen, dass das nomenklatura-kapitalistische und autoritär-nationalistische Putin-Regime alle Symbole verwendet, die von der „Größe Russlands“ künden. Dabei gilt die Sowjetunion offen und umstandslos als das, was sie unter Stalin geworden war: Eine spezifische Variante des Großrussischen Reiches. Eben deshalb auch hasst Putin so entschieden Lenin, der die Sowjetunion gerade nicht als Fortsetzung des russischen Reiches verstand, sondern als Zusammenschluss von Sowjet-Republiken, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht
en.
Doch wie geht die Nutzung sowjetischer Symboliken mit der reaktionär-nationalistischen Praxis der Gegenwart zusammen? Seit 2012 und besonders seit dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution 2017 ist es dem Regime gelungen, eine Geschichtsideologie zu schaffen, in deren Zentrum die Erzählung vom positiven Wesen eines großrussisch-autoritären Staates steht. In ihr wird eine Entwicklung von den Zaren über Stalin bis zu Putin konstruiert. Lenin ist aus der Erinnerung weitgehend getilgt, es sei denn, er muss als der Schuldige am Untergang des sowjetrussischen Staates 1989 bis 1991 herhalten. Die Zeiten der Großen Russländischen Revolution gelten als Zeiten von Wirren, in denen sowohl Rote wie Weiße das Beste für Russland wollten und die schließlich den Aufstieg des starken stalinistischen Staates in der Nachfolge des Zarenreiches hervorbrachten. Hier hatte Russland seine größte Ausdehnung und seine Geltung als Weltmacht erreicht. Auf diese nationalistische Weise lassen sich im Volk tradierte Symbole und Kulte des Sowjetstaates als jene des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg mit den Symbolen des Zarismus zu einer reaktionären Melange von der Größe Russlands verrühren. Der Feiertag des 9. Mai steht deshalb heute nicht sosehr als Symbol der Erinnerung an die Opfer Russlands beim Sieg über Hitlerdeutschland und für ein „Nie wieder Krieg!“, sondern für die heutige Stärke Russlands und die Möglichkeit, den Marsch nach Berlin im Kampf gegen den Westen wiederholen zu können.
Da ist es kein Wunder, dass die Zensurbehörde selbst Jewtuschenkos Lied „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ inzwischen als staatsgefährdenden Treibsatz erkannt und verboten haben.8
Mit Rücksicht auf den Konservatismus der Massen dürfen – entgegen mancher reaktionärer Forderungen – dank Putin sogar die Statuen des „Popenmörders“ Lenin einstweilen stehen bleiben. Anknüpfend an Ideen vom Russländischen Eurasien und andere erzreaktionäre Strömungen ist diese Ideologie „antiwestlich-antiliberal“ und ethisch konservativ. Sie meint eben „Russland, aber normal“, um einen Wahlslogan der AfD zu modifizieren. Doch nach außen paart sich diese Ideologie mit einem Glauben an die anti-dekadente Mission Russlands und dem Wunsch nach einer Revanche für den Untergang der einstigen russischen Weltmacht namens Sowjetunion. Das von Wut verzerrte Gesicht Putins, als er von den Drogenabhängigen in der ukrainische Regierung sprach, war ein ebenso echter Ausdruck dieser Ideologie, wie die Verkündung des Patriarchen von Moskau, Kyrill, dass der Kampf Russlands in der Ukraine gerecht sei, weil er sich gegen die dort existierende Herrschaft von Homosexuellen richte.
Der vielsagende Anfang von Putins politischer Karriere
Über diese reaktionäre Ideologie kann nur verwundert sein, wer die kriminell-kapitalistische Wendung der autoritären „kommunistischen“ Nomenklatura außer Acht lässt, die bereits am Beginn der Rekapitalisierung des ex-sowjetischen Staatseigentums diktatorische Züge hervorbrachte.
Als Ende 1993 der Weg Russlands in den Kapitalismus durch Jelzins Einsatz von Panzern gegen den demokratisch gewählten Volksdeputiertenkongress Russlands politisch gesichert erschien, begab sich eine Delegation führender deutscher Manager nach Russland, um Investitionsbedingungen auszuloten. Bei einem Treffen mit dem für die Pflege ausländischer Investoren zuständigen damaligen Vizebürgermeister von St. Petersburg, Wladimir Putin, kam es zu einem bemerkenswerten Gespräch, das nicht nur über die damaligen Herrschenden in Russland, über Putins Denkweise schon am Beginn seiner politischen Karriere, sondern auch über die deutschen Manager Charakteristisches aussagt. Als die beim Treffen anwesende Kamera ausgeschaltet war, fragte ein deutscher Generalmanager Herrn Putin, ob eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild in Russland nicht nur in Kreisen des Militärs erwogen werde. Herr Putin antwortete sehr eindeutig: „Wenn Sie so fragen … Ich befürworte eine Pinochet-Diktatur in Russland“.
Die Zeitung Neues Deutschland ergänzte Ende des Jahres 1993 auf Grundlage einer wenige Tage später ausgestrahlten WDR-Dokumentation die Ausführungen des Vizebürgermeisters so: „Dabei unterschied Putin zwischen ‚notwendiger‘ und ‚krimineller‘ Gewalt. Kriminell sei politische Gewalt, wenn sie auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse abziele, „notwendig“, wenn sie private Kapitalinvestitionen befördere oder schütze. Er, Putin, billige angesichts des schwierigen privatwirtschaftlichen Weges eventuelle Vorbereitungen Jelzins und des Militärs zur Herbeiführung einer Diktatur nach Pinochet-Vorbild ausdrücklich. Putins Ausführungen wurden sowohl von den deutschen Firmenvertretern als auch von dem anwesenden stellvertretenden deutschen Generalkonsul mit freundlichem Beifall aufgenommen.“9 Die Antwort scheint den deutschen Herren gefallen zu haben, denn alle, alle kamen und investierten in Russland, Siemens, VW, Daimler, die Chemie und viele mehr.
Putin und die Oligarchie
Als Vizebürgermeister organisierte Putin recht erfolgreich korruptionsbasierte Deals zwischen alten Wirtschaftskadern, Westmanager:innen oder Mafiosi mit Politiker:innen, so konnte ein „erfolgreiches“ Mittagessen mit dem Bürgermeister Sobtschak schon mal über 100.000 US-Dollar kosten. Jedenfalls war die wirtschaftliche Situation der Stadt St. Petersburg wesentlich günstiger als im übrigen Land, weshalb Putin vom Stab Jelzins nach Moskau geholt und nach einem Intermezzo als FSB-Chef bald Ministerpräsident Russlands wurde.
Die Oligarchen, deren Wahlkampagne Jelzin 1996 seine Wiederwahl und eine zweite Amtszeit verdankte, bestimmten ungeniert die Politik des Kreml. Zur Sicherung ihrer Macht und ihrer Vermögen organisierten sie auch die Nachfolge Jelzins im Präsidentenamt, wenn dieser nach zwei Wahlperioden im Jahr 2000 ausscheiden müsse. So übergab Jelzin sein Amt bereits vor Ablauf der Wahlperiode an den als „Reformer“ und Mann der Oligarchen geltenden Putin. Sofort begann die systematische Inszenierung Putins zum Bären reitenden und Drachen tötenden Superhelden. Einen – vermutlich geheimdienstlich inszenierten – Terroranschlag in Moskau benutzte Putin zur Eröffnung des zweiten Tschetschenienkrieges. Hierdurch demonstrierte er neue Stärke und die Wiederherstellung der „Ehre“ Russlands, was ihm große Zustimmung bei der 2000er Wahl zum Präsidenten einbrachte.
Eine ebenso große Zustimmung bei der Bevölkerung erhielt er, als Putin sich mit denen anlegte, die ihn an die Macht gebracht hatten, den Oligarchen. Er garantierte ihnen zwar das zusammengestohlene Vermögen, doch nur, wenn sie sich nicht in die Politik einmischten. Exemplarisch wurde das an der Entmachtung und Bestrafung des damals reichsten Mannes in Russland vorgeführt, Michail Chodorkowski. Nachdem dieser sich vor laufenden Fernsehkameras mit dem Präsidenten wegen der Korruption im Staatsapparat anlegte und in Opposition zum Präsidenten ging, wurde er 2003 verhaftet und 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf lautete auf schweren Betrug und Steuerhinterziehung mit einem Schaden von über einer Milliarde US-Dollar für den russischen Staat. Sein Öl-Konzern Yukos wurde unter Staatskonzernen aufgeteilt.
Doch im Hintergrund dieser Auseinandersetzung gab es auch einen wirtschaftspolitischen Konflikt, denn Putin beabsichtigte, die Öl- und Gaswirtschaft als für Russland wirtschaftlich und politisch strategisch wichtigen Zweig wieder in staatlichen Besitz zu bringen.
Neben der in der kriminellen Privatisierung der 1990er Jahre wurzelnden Oligarchie hat die Herrschaft des autoritären Präsidialsystems noch ein weiteres Phänomen hervorgebracht. Mit Putin übernahmen die Kader des ehemaligen KGB die Kontrolle über die Oligarchie und brachten aus ihren Reihen nunmehr eigene Oligarchen hervor. Oft waren es alte Spezis und Vertraute des Präsidenten, die ihm ihren neuen Reichtum verdanken. So schuf Putin faktisch eine neue „Staats-Oligarchie“ neben und über der Jelzinschen „Privat-Oligarchie“. Sie besetzt die wichtigsten Schaltstellen von Staatsapparat, Staatskonzernen und Wirtschaftskontrolle und bildet auf diese Weise ein enges Netzwerk von Politik und strategisch wichtigen Wirtschaftsbereichen. Durch ihre Funktionen haben ihre Angehörigen zugleich die Möglichkeit, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Insofern bleibt sie erst recht „dem System Putin“ zur Loyalität verpflichtet.
Die Modernisierung der Wirtschaft scheitert am Putin-Regime
Die Art und Weise der engen Verzahnung von Politik und Wirtschaft hat für Russland nicht nur Folgen für die Entwicklung der Demokratie, sondern ebenso Folgen für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. Das Problem ist die politische Vermachtung zweier dominierender Wirtschaftsblöcke in einem gemeinsamen, von Geheimdienstleuten geprägten politischen Machtblock, in dessen Zentrum der Präsident steht. Das ist einerseits die alle anderen zivilen Wirtschaftszweige durch Größe und den hohen Grad der Monopolisierung übertreffende Öl- und Gas-, aber auch die Kohle erschließende und exportierende Industrie. Hinzu kommt der Militärisch-Industrielle Komplex (MIK). Die monopolistische Kapitalstärke beider Wirtschaftsmacht-Blöcke führt fast regelmäßig dazu, dass neben ihnen entstehende innovative Unternehmen entweder aufgekauft oder vom Markt gedrängt werden. Die Ein- und Unterordnung des großen intellektuellen Potenzials Russlands etwa im IT-Bereich unter die Bedürfnisse von Militär und Geheimdiensten ist ein beredtes Beispiel für die hierdurch bedingte langfristige Schwächung ziviler Sektoren und damit einer universellen Präsenz des Riesenlandes auf dem Weltmarkt.
Die Modernisierung der fossilen Industrie und des MIK zulasten der Vervielfältigung und Modernisierung der übrigen zivilen Wirtschaftsstruktur ist der machtstrukturell bedingte Hinkefuss der gesamten Wirtschaftsentwicklung in Russland. Das auf Öl und Gas beruhende, ökonomische Renten kleptokratisch verzehrende Machtgefüge des Putin-Regimes ist daher selbst die beste Garantie für das langfristige Hinterherhinken Russlands hinter seinen imperialistischen Konkurrent:innen. Stets extrem abhängig vom Öl- und Gaspreis auf dem Weltmarkt verkörpert es zudem in Zeiten der Klimaerhitzung auch in dieser Hinsicht innen- wie außenpolitisch extrem reaktionäre Interessen.
Erst die Wirtschaftssanktionen des Westens seit 2014 haben eine begrenzte Modernisierung anderer Zweige wie der Lebensmittelindustrie bewirkt. Zudem ist Russland heute mit einem Anteil von 20 Prozent einer der größten Weizenexporteure der Welt, was nichts an der Tatsache ändert, dass Russlands Exportstruktur weitgehend dem halbkolonialen Status eines Rohstoffe und Halbfabrikate exportierenden Landes entspricht. Seit dem Verfall der Öl- und Gaspreise ab 2008 stagnieren die Einkommen der Lohnabhängigen. Mit neuerlichen neoliberalen Angriffen auf Lohnabhängige und Rentner:innen wurde versucht, die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen und die Sanierung des Haushalts voranzutreiben. Dank Ölpreiserhöhung der letzten drei Jahre konnte allerdings die Corona-Pandemie sozial abgefangen und die Kriegskasse gefüllt werden.
Gewalt statt Modernisierung
Der von Wladimir Putin und seinem Umfeld durchaus als Problem erkannte Widerspruch zwischen Russland als atomarer Supermacht und seinem ökonomischen Status auf dem Niveau Brasiliens hatte zu dem erklärten Ziel des Präsidenten geführt, dass Russland bis 2035 eine der fünf größten Wirtschaftsmächte der Welt werden soll. Stillschweigend musste dieses Ziel aber auf Eis gelegt werden. Neuere Prognosen vor dem Angriff auf die Ukraine besagen, dass Russlands Wirtschaft langfristig stagnieren und auch im Jahr 2035 sich etwa auf einem Platz wie heute bewegen wird. Doch bis zu diesem Zeitpunkt wird der Verbrauch fossiler Brennstoffe der wichtigsten sicheren Abnahmeländer in Europa drastisch zurückgegangen sein.
Wladimir Putin hat die Bedeutung des Zeitfaktors für den Konkurrenzkampf der Imperien begriffen. In einer Rede vor dem russischen Waldai-Diskussionsklub erklärte er 2021, dass in den nächsten Jahren darüber entschieden wird, wer in der Welt Zentrum und wer Peripherie ist. Seine Politik der letzten Jahre macht deutlich, dass er und sein Umfeld erkannt haben müssen, dass dieser Kampf nicht auf ökonomischem Feld zu gewinnen ist. Mit seiner rabiaten Unterdrückung jeglicher Opposition im Innern, mit seiner massiven Beihilfe zur Unterdrückung der Revolten in Weißrussland und in Kasachstan und seiner im Januar erfolgten Äußerung, dass Russland keine Revolution im postsowjetischen Raum dulden wird, hatte er die Bereitschaft zur Eskalation von Gewalt nach innen wie nach außen deutlich zum Ausdruck gebracht.
Ob die langfristige ökonomische Schwäche Russlands, für die der Charakter des Putin-Regimes selbst hauptverantwortlich ist, vor dem Hintergrund des Zeitfaktors den letzten, entscheidenden Auslöser für den Angriffskrieg auf die Ukraine bildete, kann nicht endgültig beantwortet werden. Dass sie aber zumindest einen wesentlichen Entscheidungshintergrund bildete und die Entscheidung für den Krieg stark befeuert haben dürfte, kann als ziemlich sicher angenommen werden. Denn wenn Russland auf Dauer keine ökonomische Großmacht werden kann, dann bleibt nur die Gewalt als Mittel, Großmacht zu sein. Aus der langfristigen ökonomischen Schwäche einerseits und dem großrussischen Weltmachtanspruch andererseits erklärt sich die zunehmende Aggressivität der Politik des Putin-Regimes.
Aber nicht allein! Der in der herrschenden Klasse Russlands und bei Putin selbst tief verankerte Glaube an eine historische Mission eines großrussischen Imperiums gegenüber dem „dekadenten Westen“ schließt immer auch die Ukraine ein. Nicht nur aus pseudo-historischen Gründen, sondern auch, weil bekanntlich Russland ohne Ukraine zwar ein großes Land ist, aber eben kein Imperium. Doch der imperiale Traum ist weitaus größer …
Die Behauptung Putins, dass die gewaltsame Annektion und Kolonialisierung der baltischen Länder durch die Sowjetunion im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts nach gültigem Völkerrecht geschah, lässt auch für alle anderen Völker des russisch-sowjetischen Völkergefängnisses, die sich wie Moldawa (das zaristisch und von Stalin geraubte rumänisch-sprachige Besarabien) oder Georgien 1991 von Rußland unabhängig machten, nichts Gutes ahnen. Zudem hatte der Adlatus Putins, Dmitri Medwedew, seinerzeit als Präsident verkündet, dass Russland überall dort das Recht hätte zu intervenieren, wo ethnische Russen leben. Und das betrifft alle ehemaligen Sowjetrepubliken, auch jene, die heute in EU und NATO Mitglieder sind.
Die im Dezember 2021 den USA und der NATO von Russland unterbreiteten Vertragsentwürfe, die die Rückabwicklung der NATO in Osteuropa verlangten, deuten mehr als deutlich darauf hin, dass Russland aber auch erneut eine Kontrolle über Länder des ehemaligen Warschauer Vertrages in Osteuropa anstrebt. Die revisionistischen Ambitionen des russischen Neo-Imperialismus haben das Potenzial für weitere Kriege. Sie sind aber auch Gründe für die angstgetriebene Flucht dieser Länder unter die Fittiche der USA und des Westens. Die begrenzten Möglichkeiten für das Putin-Regime, durch ökonomische oder gar kulturelle Hegemonie seine politischen Ziele im „nahen Ausland“ und in Osteuropa zu erreichen und seine Angst vor Massenbewegungen machen dieses Regime so aggressiv und gefährlich.
Es ist höchste Zeit für Linke im Westen, endlich die zutiefst reaktionäre und aggressive, für die Welt höchst gefährliche Entwicklung des Putin-Regimes zur Kenntnis zu nehmen. Gegenüber diesem Regime kann es für Linke keine Neutralität geben; was nicht heißt, bei der NATO anzuklopfen. Vor allem muss eine sozialistische Linke wieder zu einer eigenständigen politischen Kraft mit einem eigenen, auf die Gegenwart bezogenen Entwurf für eine neue Weltordnung werden.
* Dieser Artikel wurde in etwas geänderter Gestalt in express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 4/2022 veröffentlicht.
** Bernd Gehrke ist Historiker und Publizist (Berlin).
1 Boris Romanchenko starb Ende März 2022 96jährig bei einem russischen Artillerieangriff auf Charkiw in seiner Wohnung. Er war ukrainischer Zwangsarbeiter in Nazideutschland und überlebte vier faschistische Konzentrationslager. Als Vizevorsitzender des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora setzte er sich bis ins hohe Alter aktiv für die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen ein.
2 Vgl. David Ernesto Garcia Doell: „In Russland droht ein faschistisches Regime“ Interview mit Greg Yudin: ; https://www.akweb.de/politik/greg-yudin-in-russland-droht-ein-faschistisches-regime/
3 Die unabhängigen Gewerkschaften der Konföderation der Arbeit (KTR) haben sich nach 1989 staatsunabhängig gegründet, während die Nachfolgerin der sowjetischen „Staatsgewerkschaften“ auch heute regimetreue Co-Managementpolitik mit dem Kapital betreiben. Obgleich den KTR-Gewerkschaften weit weniger Mitglieder angehören, als den Staatsgewerkschaften, werden die meisten Arbeitskämpfe aber von den KTR-Gewerkschaften oder kleinen selbständigen Fachgewerkschaften geführt.
4 Vgl. Doro Zinke: Russland – Freie Gewerkschaften unter Druck, DGB, https://www.dgb.de/themen/++co++26a99e66-a7ca-11e9-a475-52540088cada [Zugriff_ 12.01.2022]
5 Vgl. Oleg Shein: Russian Capitalism and coronavirus, KTR News, 27.05.20; http://ktr.su/en/content/news/detail.php?ID=6893 [Zugriff_ 12.01.2022]
6 Vgl. Bernd Gehrke, In memoriam Memorial?, in: express 2-3/2022, S. 7-8.
7 Vgl. auch den Beitrag von Slave Cubela in express 4/2022, S. 8-9.
8 Vgl. https://www.br.de/nachrichten/kultur/wir-sind-keine-militaerdiktatur-zensur-empoert-russlands-medien,T2KI1gM.
9 Vgl. Vize Bürgermeister von St. Petersburg Wladimir Putin für Militärdiktatur in Russland nach chilenischem Vorbild, In: Neues Deutschland, 31.12.1993,. Das damalige Gespräch wurde jüngst in einer neuen ZDF-Doku erneut gezeigt, die in der ZDF-Mediathek abrufbar ist. Vgl. ZDF:Zeit, Putins Wahrheit: Die fünf Irrtümer des Westens, Dokumentation von Florian Huber, Sendung vom 24.03.2022, min. 13:43 – 16:11; https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzeit/zdfzeit-putins-wahrheit-100.html [Zugrifff25.03.2022].
Quelle: Sozialistische Zeitung SoZ, 6/2022; https://www.sozonline.de/2022/06/fossile-industrie-ruestung-geheimdienst/
Der Krieg und das linke Dilemma
Nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine gestanden sich viele deutsche Linke Irrtümer ein, zogen aber nicht die Konsequenzen daraus
Der Krieg in der Ukraine hat die linke Community in Deutschland in lange nicht gekannte gespannte Aufmerksamkeit versetzt. Seit dem 24. Februar 2022 folgten Stellungnahmen auf Stellungnahmen, kurz und bündig formuliert oder in der Art längerer Erklärungen. Offensichtlich hat der russische Angriffskrieg den Nerv eines linken Selbstverständnisses getroffen. Das hat vor allem damit zu tun, dass Russland einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen hat, der das Ziel verfolgt, ein ganzes Land zu erobern und seine Identität zu vernichten. Ein solcher Angriff übertraf selbst die Vorstellungen jener, die aus ihrer Kritik der Politik Putins nie einen Hehl gemacht hatten.
Für einen kurzen Augenblick des Schocks war fast die gesamte deutsche Linke nach dem 24. Februar einig darin, dass sie sich in der Einschätzung des Charakters der Regierung Putin geirrt hatte. »Wir, die Friedensbewegung, linke Gruppen und Parteien und fortschrittliche Publikationen, lagen falsch«, schrieb zum Beispiel Winfried Wolf in einem Zwölf-Thesen-Papier vom 27. Februar 2022. Solchen offenen und öffentlichen Eingeständnissen, in der Analyse versagt zu haben, wie sie hier von einem Vertreter der traditionellen Antikriegsbewegung vorgenommen wurde, folgten weitere.
Die Zweifel an der eigenen Fähigkeit, eine politische Entwicklung voraussehen zu können, währten allerdings sehr kurz. Oft schon wenige Tage nach dem Eingeständnis des Irrtums kam es zu »Richtigstellungen«, in denen nun das ganze Augenmerk auf die Rolle der USA als dem entscheidenden Kriegstreiber und Strippenzieher gelegt wurde.
Ein Recht auf Verteidigung
Im Rückblick drückt sich das ganze Dilemma und das erneute Versagen eines großen Teils der deutschen Linken in solchen Stellungnahmen aus: Ohne gründlich zu hinterfragen, welche eigenen politischen Annahmen zu den grandiosen Fehleinschätzungen geführt haben könnten, wurden die nächsten Halbweisheiten verkündet. Einige Genoss*innen aus der Partei Die Linke gingen in einem Artikel in der Zeitung »Junge Welt« dazu über, der Ukraine das militärische Verteidigungsrecht abzusprechen: »Ohne Zweifel steht es einem Angegriffenen zu, sich zu verteidigen«, dozierten sie, »aber aus dem Recht zur Selbstverteidigung resultiert keineswegs der Zwang, dafür militärische Mittel einzusetzen«. An anderer Stelle im Artikel sprachen sie Regierung, Bevölkerung und großen Teilen der ukrainischen Linken gleich ganz ab, einen klaren Verstand zu besitzen. Eine solche unter Linken verbreitete paternalistische Haltung enthält nicht weniger koloniales Denken als die zurecht angeprangerte Praxis der USA.
-
/ Daniel SäwertPutin beklagt »Sanktionsfieber des Westens«Für Russlands Präsidenten ist Europa an seiner Versorgungskrise selbst schuld
-
/ Peter Nowak»Ein differenzierter Blick ist wichtig«Ewgeniy Kasakow spricht im Interview über die verschiedenen Positionen der russischen Linken gegen den Krieg Russlands und sein neues Buch dazu
-
/ Emil HerrmannZwischen Orwell und GeorgienProteste gegen den Ukraine-Krieg gibt es in Russland kaum. Das heißt nicht, dass alle dafür sind.
Man hätte annehmen können, dass diejenigen, die so falsch in ihrer Einschätzung des Aggressors lagen, ihre ganze Anstrengung darauf richten würden, diese zu korrigieren. Um den Ursachen des Krieges tatsächlich auf die Spur zu kommen, wäre es allerdings zwingend gewesen, die innenpolitischen und innergesellschaftlichen Entwicklungen Russlands genauer zu betrachten und die Frage zu stellen: Was hat Putin tatsächlich zu diesem wahnsinnig anmutenden Angriffskrieg veranlasst? Man muss nicht das Wissen von an Karl Marx geschulten Historiker*innen haben, um die Bedeutung der Innenpolitik eines Staates für seine Außenpolitik zu begreifen. Warum aber wurden der ökonomische und soziale Zustand der russischen Gesellschaft und die politische Interessenlage Putins in bemerkenswert vielen Analysen ignoriert? Passt es vielleicht nicht ins Konzept, Putin als denjenigen festzustellen, der als einziger Staatschef ein wirkliches Interesse an diesem Krieg hat? Und der, weil Russlands ökonomische und soziale Verfasstheit der eines Landes wie Brasilien gleicht, nur mit der gewaltsamen Eroberung fremder Territorien seine Großmachtvorstellungen meint durchsetzen zu können?
Keine Partei ergreifen wollen
Es gibt kaum Positionen in der Linken, die den aggressiven und verbrecherischen Charakter des russischen Angriffskrieges leugnen würden. Aber es lässt sich eine Tendenz beobachten, diesen als Putins Reaktion auf die Kriegspolitik des Westens, auf die Gefahr der »Einkreisung« Russlands durch die Nato oder auch als Reaktion eines gedemütigten Autokraten zu erklären. Die »Schuldfrage« ist damit bestenfalls gleichmäßig verteilt und aus dem Angriffs- und Zerstörungskrieg Putins wird ein imperialistischer Krieg zwischen den USA und Europa auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Eine im Kalten Krieg politisierte westdeutsche Antikriegsbewegung kann auf diese Weise nahtlos an ihr altes Verständnis der USA als eigentlichem Aggressor anknüpfen, ohne sich der Herausforderung einer veränderten Weltlage zu stellen. Von der Ukraine, die derzeit einen Abwehr- und Befreiungskampf führt, ist hier ohnehin keine Rede mehr.
Teile der Antikriegsbewegung kommen daher zu dem Schluss, dass, weil der Krieg als imperialistischer Machtkampf verstanden werden müsse, man für keine Seite Partei ergreifen könne. Im Kontext des Angriffskriegs bedeutet diese scheinbare Neutralität aber, Täter wie Opfer moralisch und politisch gleichzusetzen und damit letzten Endes für den Aggressor Partei zu nehmen. So sind dann auch Forderungen nach sofortigem Stopp aller Kampfhandlungen auf dem Gebiet der Ukraine nichts anderes als ein Aufruf an die ukrainische Bevölkerung, sich den russischen Invasoren zu ergeben. Dies aber, so wissen wir aus Putins Kriegsreden, käme einer Vernichtung der ukrainischen Gesellschaft gleich, inklusive aller emanzipatorischen Bewegungen, Gewerkschaften und der gesamten politischen Linken. Das zentrale Versagen jener Teile der deutschen Friedens- und Antikriegsbewegung besteht grade darin, dass sie sich für die Konsequenzen ihrer pazifistischen Rufe wie »Nie wieder Krieg!« und »Die Waffen nieder!« nicht weiter zu interessieren scheinen.
Knackpunkt Ukraine
Aber die deutsche Linke ist in dieser Sache tief gespalten. Eine Spaltung, die durch alle politischen Lager und Strömungen geht und die die erwähnte Friedensbewegung ebenso trifft wie soziale und gewerkschaftliche Bewegungen, linke Organisationen, Anarchist*innen, Trotzkist*innen, Antiautoritäre, Libertäre oder die Partei Die Linke, wie die heftigen Debatten in Erfurt gezeigt haben. Im Hinblick auf die Einschätzung des russischen Angriffskriegs ist der entscheidende Punkt, an dem die Spaltung verläuft, der Stellenwert, den die Ukraine in diesen Debatten zugesprochen bekommt. Wird sie lediglich als Spielball der imperialen Großmächte in West und Ost wahrgenommen oder als souveräner Staat mit einer demokratisch gewählten Regierung? Fließen die Interessen der ukrainischen Bevölkerung in linke »Stellungnahmen« ein und wird die Haltung ukrainischer Linker zur Grundlage eigener Einschätzungen gemacht? Werden deren Debatten überhaupt zur Kenntnis genommen?
Seit einigen Wochen werden die Stimmen in der deutschen Linken hörbarer, die in Bezug auf die Ukraine darauf drängen, »mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die wir überall auf der Welt als Bezugspunkte sehen: Sozialist*innen, organisierte Arbeiter*innen, Anarchist*innen, Umweltbewegte, Feminist*innen«, wie Nelli Tügel in der Zeitung »analyse & kritik« schreibt. Sie nahm zusammen mit anderen Redakteur*innen der »ak« und der »Jungle World« an einem internationalen Treffen in Lwiw in der West-Ukraine teil, organisiert von der ukrainischen Gruppe »Socialnij Ruch« (Soziale Bewegung) in Zusammenarbeit mit dem »European Network in Solidarity with Ukraine and Against War«.
Auch Veranstaltungen mit aus der Ukraine geflüchteten oder per Video aus der Ukraine zugeschalteten Vertreter*innen linker Gruppen und Medien haben inzwischen stattgefunden, durch die es möglich ist, die Situation in der Ukraine besser begreifen zu können. Ein solcher Einblick in die Selbstverständigung von ukrainischen Linken zum Krieg ermöglicht es zu verstehen, dass Linke zur Verteidigung ihres Landes aufrufen können, ohne Nationalist*innen zu sein und dass diese Verteidigung den Kampf für soziale Rechte in der Ukraine und gegen die Macht der Oligarchen nicht ausschließen muss. Die Situation linker und sozialer Gruppen vor Ort in diesem Krieg ist sehr viel komplizierter als Linke hierzulande bisher annahmen.
Es braucht die solidarische Debatte mit Bündnispartner*innen in der Ukraine, um nicht in hohle Phrasen und besserwisserische Empfehlungen eines falsch verstandenen Pazifismus zu verfallen. Aktivist*innen der »Exilanten aus der syrischen Kantine von Montreuil« eröffneten dazu das Angebot: »Wir laden Sie ein, den Stimmen von Menschen und Organisationen, die die Prinzipien der direkten Demokratie, des Feminismus und des Egalitarismus vor Ort verteidigen, Priorität einzuräumen. Ihre Positionen in der Ukraine und ihre Forderungen von außen werden Ihnen helfen, ihre eigene Meinung zu bilden.« Diesem Rat sollten wir folgen, in unserem eigenen Interesse.
Quelle: Neues Deutschland, 15.07.2022; https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165339.krieg-in-der-ukraine-der-krieg-und-das-linke-dilemma.html
In Memoriam Memorial?
Das Putin-Regime will die blutigen Schandflecken der Sowjetunion wieder unkenntlich machen – von Bernd Gehrke*
Am 28. Dezember 2021 verbot in Moskau das Oberste Gericht mit fadenscheinigen Begründungen eine der ältesten Menschenrechtsorganisationen Russlands. Von namhaften Historiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen wurde Memorial International 1988 während der Perestroika in der Sowjetunion gegründet. Ihr Anliegen war es, die von der KPdSU-Diktatur unterdrückten Fakten der Terrorgeschichte des Landes ans Licht der Öffentlichkeit zu holen, aufzuarbeiten und den Millionen von Opfern Gesicht und Stimme zu geben.Was macht Memorial?
Memorial hat seither umfangreiche Datenbanken aufgebaut, die die biografischen Daten von mehr als drei Millionen Opfern der stalinistischen Mordmaschinerie enthalten. Mehr als 60.000 persönliche Aufzeichnungen von Opfern wurden archiviert, ebenso Materialien der sowjetischen Dissident:innen-Bewegung seit den 1960er Jahren. Zu den Beständen des Archivs gehören auch Unterlagen deutscher Antifaschist:innen, die im sowjetischen Exil ermordet, zu Sklavenarbeit im GULag verurteilt oder sonstwie Opfer der Repression wurden. Allein die Bibliothek von Memorial enthält mehr als 40.000 Bände. Das von Memorial aufgebaute Museum hatte in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Ausstellungen zu verschiedenen Themen von Repression und Opposition gezeigt. Orte des Repressionsregimes wurden erforscht und Gedenkstätten errichtet.
Mit dem Verbot der Tätigkeit von Memorial steht all dies zur Disposition. Es sei denn, Memorial könnte es unterlaufen. Und eben das ist die m.E. noch offene Frage für die Zukunft der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen in Russland. Welche Möglichkeiten des Unterlaufens des Verbots es gibt, wird wohl erst noch erprobt werden müssen.
Anschlag auf die Zivilgesellschaft
Das Verbot von Memorial ist nicht nur irgendeine weitere Repression der russischen Staatsmacht gegen Oppositionelle und zivilgesellschaftliche Akteure. Aufgrund des erinnerungspolitischen Charakters von Memorial International sowie ihrer Menschenrechts-Ausgründung als auch wegen ihres großen Renommees im In- und Ausland zielt dieses Verbot jetzt auf den
Kern von Zivilgesellschaft überhaupt. Es ist ein Schlag gegen jegliche Art staatsunabhängiger und autonomer Selbstorganisation von Gesellschaft. Denn nunmehr wird selbst eine staatsunabhängige Produktion von Gesellschafts- und Geschichtserzählung unterdrückt.
Ich habe aber große Zweifel, dass es dem Regime gelingt, Zivilgesellschaft und oppositionelle Aktivitäten »nachhaltig« zu zerschlagen, denn immer wieder hat die Zivilgesellschaft Russlands in den letzten zwanzig Jahren bewiesen, dass sie trotz brutaler Repression Lösungen für ihr Überleben findet und erneuerungsfähig ist. Zudem erzeugt das Regime mit seinen tiefen Widersprüchen selbst immer wieder neue Proteste.
Stalin-Aufarbeitung schon länger unter Druck
Als ich im September 2018 mit einer Gruppe des DGB Bildungswerks Bund und Mitgliedern der Humanistischen Union in Moskau Memorial besuchte, wo wir uns über die schon damals von Deutschland aus bedrohlich erscheinende Situation der Organisation informierten, sah es vor Ort tatsächlich gar nicht gut aus. Gespräche mit Historiker:innen und Aktivist:innen ermöglichten einen plastischen Eindruck von der Bedrohung durch Gerichte und Behörden.
Allgegenwärtig war schon die Verbotsdrohung, die durch die Klassifizierung von Memorial als »ausländischer Agent« durch die Staatsmacht vorgenommen worden war, weil Memorial Spenden aus dem Ausland erhält. Während diese Bedrohung auf den Widerspruch aus der russischen Intelligenzia stieß und durch den internationalen Bekanntheitsgrad von Memorial auch international wahrgenommen wurde, sah es mit der praktischen Behinderung der
Memorial-Gruppen an vielen Orten des Landes völlig anders aus. Deren Aktivitäten stießen – international wenig beachtet – allenthalben auf Behinderungen von Behörden. Oft waren diese angestachelt vom Protest einer Einheitsfront großrussischer »Patrioten«, die von Putins Partei »Einiges Russland« über regimetragende Kommunist:innen der KPRF bis zu den Ultra-
Nationalist:innen der LDPR reichte. Die »Ehre Russlands« bei den einen oder die der »Sowjetunion« bei den anderen unterscheidet sich letztlich nur in ideologischen Nuancen. Das saubere Bild eines großrussischen Staats ist das gemeinsame praktisch-politische Ziel all
dieser Vaterlandsvereine.
Zaren, Stalin, Putin
Seit 2012 und besonders seit dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution 2017 ist es dem Regime gelungen, eine Geschichtsideologie zu schaffen, in deren Zentrum die Erzählung vom positiven Wesen eines großrussisch-autoritären Staats steht. In ihr wird eine Entwicklung von den Zaren über Stalin bis zu Putin konstruiert. Lenin ist aus der Erinnerung getilgt und die Zeiten der Großen Russländischen Revolution gelten als Zeiten von Wirren, die den Aufstieg des stalinistischen Staates in der Nachfolge des Zarenreiches ermöglichten. So lassen sich im Volk tradierte Symbole und Kulte des Sowjetstaates als jene des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg mit den Symbolen des Zarismus zu einer Melange von der Größe Russlands
verrühren. Mit Rücksicht auf den Konservatismus der Massen dürfen dank Putin sogar die Statuen des »Popenmörders« Lenin einstweilen stehen bleiben.
Anknüpfend an Ideen vom Russländischen Eurasien und andere erzreaktionäre Strömungen ist diese Ideologie »antiwestlich-antiliberal« und ethisch konservativ. Eben »Russland, aber normal«, um einen Wahlslogan der AfD zu modifizieren.
Erinnerungspraxis an Stalin-Opfer à la Putin
Da trübt die Konfrontation mit der mörderischen Vergangenheit durch die Schaffung von Gedenkstätten für die im Stalinismus Ermordeten oder für die Staatssklaverei im GULag natürlich das Bild eines »großartigen Russlands«.
Das Schicksal der von Memorial-Aktivist:innen in den 1990er Jahren geschaffenen »Gedenkstätte der Geschichte politischer Repression ›Perm 36‹«, die von einer Memorial-nahen NGO geleitet worden war, nahm vorweg, worum es dem reaktionären Regime mit dem Verbot von Memorial jetzt geht. Die Gedenkstätte, die an das Schicksal der Opfer und das drakonische Haft- und Arbeitsregime erinnerte, wurde im Frühjahr 2014 durch die Staatsmacht geschlossen. Unter einer neuen, von den Behörden eingesetzten Leitung wurde das Museum noch im gleichen Jahr mit einer neuen Ausstellung wiedereröffnet. In der regimekonformen Nachfolge-Einrichtung gaben nunmehr ehemalige Lager-Aufseher:innen und die neue Ausstellung Zeugnis vom »aufopferungsvollen Alltag« des Lager-Personals bei der Umerziehung von »Kriminellen und Staatsfeinden« durch Arbeit zum Aufbau des Landes.
Nunmehr wurden nicht mehr die Zeugnisse des Überlebenskampfes der Opfer, sondern jene der Menschenschinder durch Uniformen, Ehrenzeichen und Fotos gewürdigt. So passt nun selbst ein sowjetisches Zwangsarbeitslager in eine »ehrenvolle Geschichte des großen Russlands«.
Solche radikale Umdeutung von Geschichte ist atemberaubend. Immerhin bestand das Straflagersystem des GULag zwar aus verschiedenen Lagertypen, aber in den Hochzeiten des Stalinschen Terrors war es wesentlich ein Zwangsarbeitssystem, in dem Vernichtung durch Arbeit praktiziert wurde. Hunderttausende Menschen starben dabei.
So verschieden die historischen Kontexte zwischen den Konzentrations- oder Zwangsarbeitslager-Systemen in Geschichte und Gegenwart auch sein mögen, für eine emanzipatorische Linke ist und bleibt es eine wichtige internationalistische Aufgabe, gegen jede Form von Erinnerungspolitik zu kämpfen, die statt der Perspektive der Opfer jene der Täter:innen der verschiedenen Terrorregimes zum Ausdruck bringt oder die Opfer verschweigt.
Das betrifft nicht nur die Ausbeutungsregime des europäischen Kolonialismus im globalen Süden oder die nationalsozialistischen Konzentrationslager, sondern eben auch den sowjetischen GULag. Denn der Blick zurück ist leider auch ein Blick nach vorn, auf die heute existierenden Zwangsarbeitsregime in der Welt. Für alle Menschen, die noch wie auch immer an einer sozialistischen Perspektive festhalten, ist antistalinistische Erinnerungs- und Geschichtspolitik unverzichtbar. Daher trifft das Verbot von Memorial besonders schwer.
Deshalb gilt: Solidarität mit Memorial und »Rossija bjes Putina!«/»Russland ohne Putin!«
* Bernd Gehrke ist Historiker und Publizist (Berlin).
Links:
Memorial Moskau (engl): https://www.memorial.de/index.php/ueber-memorial/memorial-international
Memorial Deutschland : https://www.memorial.de/
Quelle: express 2-3/2022; https://express-afp.info/wp-content/uploads/2022/02/22-23-Gehrke_In-Memoriam-Memorial.pdf