SBZ/DDR/Transformation

Auf dieser Seite veröffentlichen wir ausgewählte Texte zur Geschichte von SBZ, DDR und der Transformation seit 1990

Wir beginnen mit der Veröffentlichung eines Buches zur „Betriebswende“, welches 2001 von Bernd Gehrke und Renate Hürtgen herausgegeben und vom Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung veröffentlicht wurde. Bis heute ist es das einzige Buch geblieben, in dem versucht wird, eine umfassende Darstellung der Entwicklung in den Betrieben der DDR während der Zeit der demokratischen Revolution von 1989/1990 zu geben. Deshalb hat es auch gegenwärtig seine Aktualität nicht verloren.

Siehe: Bernd Gehrke/Renate Hürtgen (Hrsg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion – Analysen – Dokumente, Bildungswerk Berlin der Heinricch Böll Stiftung, Berlin 2001:

Hier: Gehrke-Hürtgen_Der betriebliche Aufbruch (Buch)

Zusammengefasst finden sich die Ergebnisse aber auch in: Bernd Gehrke/Renate Hürtgen: Die demokratische Revolution und der Aufbruch in den Betrieben (Artikel)Hier: Gehrke-Hürtgen_Betriebswende (Artikel in Seeck)

Weitere Texte:

Renate Hürtgen

Die Gewerkschaften als Akteure zwischen Gestaltung und Protest

Input für: „Betriebe, Gewerkschaften und betriebliche Proteste in der Transformationsphase der neuen Bundesländer in den 1990er Jahren“, Workshop, 19. Juli 2019, Leipzig, Veranstalter: Universität Leipzig, Historisches Seminar ; Johannes-Sassenbach-Gesellschaft e.V.

Drei Bemerkungen vorab, die ich wie das folgende zur Diskussion stellen möchte.

Erstens: Das Interesse in unserem Panel liegt auf einer Zeit, in der in einem Moment des Vakuums gewerkschaftlicher Interessenvertretung in Ostdeutschland, ein Prozess begann, der landläufig als „Gewerkschaftseinheit“ bezeichnet wird. Der Begriff ist irreführend. 1990 begann ein Aufbau der Westgewerkschaften in Ostdeutschland, der mit der Übernahme der Strukturen, Satzungen, dem Selbstverständnis von DGB, Industrie- und Einzelgewerkschaften endete. Wir sollten also von einer Gewerkschaftsübertragung oder einem Gewerkschaftstransfer sprechen.

Zweitens: Diese Übertragung gewerkschaftlicher und betrieblicher Interessenvertretungsstrukturen auf die DDR bzw. den Osten Deutschlands fand in einer Zeit statt, als die westdeutsche Gesellschaft bereits auf dem Weg in eine neoliberale Marktwirtschaft war; die fetten Jahre des Wohlfahrtsstaates waren längst an ihr Ende gekommen und damit auch die spezifische, durchaus starke, Rolle der Gewerkschaften in dieser Zeit. Eine Neujustierung ihrer Politik, ihrer Aufgabenbereiche, ihres Selbstverständnisses stand ohnehin historisch auf der Tagesordnung, unabhängig von der deutschen Einheit und von dieser quasi nur nach hinten (bzw. nach vorn?!) verschoben. (z.B.1988 DGB Kongress)

Eine dritte Vorbemerkung: Bundesdeutsche Gewerkschaften standen und stehen immer vor der Frage, wie sie den Spagat zwischen Mitgestalten und Protest zugunsten ihrer Klientel meistern können. Nicht anders 1990 in Ostdeutschland, wo allerdings ihre Doppel-Rolle, einerseits aktiver Mitgestalter dieser Entwicklung gewesen zu sein, andererseits die Interessen der ostdeutschen Mitglieder auch gegen diese Politik vertreten zu sollen, auf eine besondere Probe gestellt wurde. In dieser Zeit nämlich waren Gewerkschaften in einem Maße eingebunden in die bundesrepublikanische Politik via Treuhand, wie wir es zuvor nicht und nicht danach erlebt haben. Daran, wie effektiv die dann etablierten gewerkschaftlichen Strukturen in den Jahren rasanter Deindustrialisierung im Osten funktionierten, wie stark sie selber diesen Prozess im Interesse der Arbeitnehmerschaft mit gestalten konnten – daran sind die Gewerkschaften und daran ist das Projekt „Gewerkschaftstransfer“ zu messen. Dabei kann es nicht um eine „Fehlerdiskussion“ gehen, sondern darum, historische Erfahrungen für den gewerkschaftlichen Kampf um eine zukünftige bestmögliche Interessenvertretung fruchtbar zu machen.

Meine Aufgabe ist es, ein paar Überlegungen für die Aufarbeitung dieses Themas voranzustellen. Welche Fragen müssten m. E. gestellt welche Probleme benannt werden? (Problem: Es gilt hier in aller Kürze zwei Themen abzuhandeln: Gewerkschaftsaufbau/Gewerkschaftsarbeit)

I.

Wer sich mit diesem gewerkschaftlichen Aufbau-Programm beschäftigen will, muss die Ausgangslagen auf beiden Seiten kennen. Anfang November 1989 war Harry Tisch qua Vertrauensentzug ausgeschieden, Anfang Dezember trat der Bundesvorstand des FDGB zurück; der FDGB spielte keine politische Rolle in der demokratischen Revolution, die Landes- und Bezirksebenen waren paralysiert, die Vorstände der Einzelgewerkschaften mit internen Auseinandersetzungen beschäftigt. Für Ende Januar 1990 hatte ein 32-köpfiges Vorbereitungskomitee, darunter auch BGL-Vorsitzende einiger Großbetriebe wie dem VEB Elektrokohle Berlin, einen außerordentlicher FDGB-Kongress einberufen, auf dem u. a. Satzungsänderungen beschlossen wurden, darunter auch eine größere Eigenständigkeit der Einzelgewerkschaften. Nach den Volkskammerwahlen am 13. März 1990 begann sich der FDGB faktisch aufzulösen, am 9. Mai besiegelten die Vorsitzenden der 20 Einzelgewerkschaften die Auflösung, ein Sprecherrat machte den Weg frei zu einer “Gründungs- und Kooperationsoffensive” mit den Partner-Gewerkschaften West. Bis dahin hatte es eine intensive Diskussion über Reformen, auch eine Satzungsänderung etc. gegeben, für die sich jedoch außerhalb der Apparatestrukturen niemand interessierte.

Es ist wichtig, zu wissen, dass diese Vorgänge im FDGB, sich neu aufzustellen, ohne Beteiligung der Mitglieder abliefen; sie waren in Scharen aus dem FDGB ausgetreten, auch, weil sie keinerlei Erwartungen an den FDGB hatten. Die Diskussionen auf dem außerordentlichen FDGB-Kongress und anderswo führten die Funktionäre unter sich. Auch zwischen den zahlreichen gewerkschaftlichen und außer gewerkschaftlichen Basis-Initiativen in den Betrieben im Herbst 1989 und den Vorgängen auf Vorstandsebene gab es so gut wie keine Verbindungen.

Am selben 9. Mai, dem Tag der Auflösung des FDGB, bekannte sich der DGB zum Ziel einer einheitlichen deutschen Gewerkschaftsbewegung unter dem Dach des DGB. (Die bis dato sehr engen internen „diplomatischen“ Beziehungen von DGB und FDGB hatten dazu geführt, dass der DGB lange an dieser Beziehung festhielt.) Die Einzelgewerkschaften verfassten ähnliche Beschlüsse. Doch schon im Januar 1990 hatten sie damit begonnen, Informationsstellen, Verbindungsstellen, Kontakt- oder Beratungsbüros in der DDR einzurichten. D.h., bereits vor den Wahlen am 18.März 1990 orientierten die Westgewerkschaften auf eine Übertragung ihres Modells auf den Osten. Dies geschah dann auf unterschiedliche Weisen: Es gab Aus- und Übertritte der Mitglieder Ost in die Gewerkschaft West, räumliche Ausdehnungen der Organisation auf das Gebiet der DDR (Bau Steine Erden), Fusionierungen auf der Basis der Grundsätze der Westgewerkschaft (IG CPK) oder Auflösungen der Ostgewerkschaft und Neueintritt in die Westgewerkschaft. (IGM) Wir werden in den folgenden drei Beiträge hören, wie dieser Strukturaufbau im DGB, in der GEW und in der Industriegewerkschaft Keramik konkret erfolgte.

II.

Anfang 1991 war der Aufbau der Westgewerkschaftenauf der Grundlage der Satzungen, der Strukturen und des Selbstverständnisses des DGB und seiner Einzelgewerkschaften formal hergestellt. Der Aufbau nicht nur der DGB-Strukturen in der Fläche und von Verwaltungsstellen dauerte jedoch noch bis in das Jahr 1992 an. Es war wohl nicht einfach, genügend Mitglieder im Osten zu finden, die eine Funktion, vor allem, wenn es sich um eine ehrenamtliche handelte, übernehmen wollten. Denn die Vorgänge in den Vorstandsetagen und auf Landesebene sind das eine, wie die Strukturen, mit welchem Personal vor Ort, in den Geschäftsstellen, Kreis- und Verwaltungsstellen aufgebaut wurden, das andere. Hier trafen Funktionäre aus dem Westen auf ehemalige FDGB-Mitarbeiter*innen, die eher verschüchtert, beleidigt, devot die neuen Vorgesetzten empfingen, wie ich in einer Studie über den DGB in Frankfurt Oder beschrieben habe. Die neuen, nicht aus dem FDGB-Apparat stammenden Funktionär*innen seien dagegen selbstbewusster aufgetreten. Woanders mag es anders zugegangen sein.

Worüber sich jedoch klar sein muss, wer diese Geschichte schreibt, dass es ein höchst ungleiches Verhältnis war, ein Vorgang, in dem die Westkolleg*innen naturgemäß die führende Rolle einnahmen, die zentralen Positionen im Osten besetzten und den Ostkolleg*innen erklären mussten, wies langgeht. Es wäre interessant, zu erfahren, ob es Widerspruch oder gar Widerstände von Seiten der neuen und alten Ost-Kolleg*innen in den Gewerkschaftsapparaten gab? Solche Untersuchungen zum „Elitenwechsel“ beim Gewerkschaftsaufbau „in der Fläche“ fehlen m.W., wie sich überhaupt bisher stark auf die Vorstände konzentriert wird; es wäre begrüßenswert, wenn sich eine eher sozialhistorisch angelegte Forschung dieser Leerstelle annehmen könnte.

Eines jedoch lässt sich auch ohne repräsentative Untersuchungen sagen: Der Gewerkschaftsaufbau nach dem Modell der DGB-Gewerkschaften fand statt, ohne das die potentiellen Mitglieder Ost nach ihren Vorstellungen gefragt worden wären; meines Wissens allerdings auch die Westmitglieder nicht. Es war – wie leider stets in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte nach 1945 – ein Aufbau von oben, der uns so selbstverständlich erscheint, dass es dringlich ist, ihn ab und an infrage zustellen.

III.

Die Ostbelegschaften wurden 1990/91 von allen Gewerkschaften mächtig umworben, einige erlebten ein Hauen und Stechen um Zuständigkeiten und Mitglieder. Am Ende des Jahres 1990 hatte der DGB eine historische erst- und einmalige Mitgliederzahl von über 11 Millionen. (3.6 Mill im Osten, 7,9 Mill. Im Westen; DAG 550 Tausend; Dt. Beamtenbund 1 Mill.) Der Organisationsgrad im Osten war hoch und lag bei über 60 Prozent. Von einem Misstrauen gegenüber Gewerkschaften kann m.E. keine Rede sein. Dass die Existenz des eigenen Betriebes bedroht sein wird und damit Entlassungen zu erwarten sind, stand den meisten als Perspektive schon 1990 vor Augen. Das Angebot der Westgewerkschaften, im Osten eine starke gewerkschaftliche Interessenvertretung aufzubauen, wurde daher dankbar angenommen. Im Sommer 1990 fanden die ersten Betriebsratswahlen statt, bis Ende des Jahres waren in vielen großen Betrieben Ostdeutschlands die neuen „Arbeitsbeziehungen“ etabliert.

Ein breiter Lernprozess hatte begonnen, der nicht nur die neuen Funktionärskolleg*innen in den Orts- Landesverbänden und Vorständen, die neugewählten betrieblichen Interessenvertretungen, sondern auch die Mitglieder selbst betraf. Zu oft wird dieser Prozess ausschließlich aus der Sicht des Westens geschildert, aus der Perspektive derer, die nun in das „unbekannte Land“ zwecks Aufbau einer DGB-Bezirksverwaltung gingen oder als Bevollmächtigter zwecks Betreuung von Betrieben einer Region. Die Kärrnerarbeit des Gewerkschaftsaufbaus aber haben die 10 Tausend Ostdeutschen geleistet, die haupt- und ehrenamtliche Funktionen in den Betrieben und Gewerkschaften übernommen hatten. Um dies zu erfassen, ist jedoch ein Perspektivwechsel zwingend.

IV.

Der DGB, die Industrie- wie Einzelgewerkschaften hatten in einer unglaublich kurzen Zeit und mit großem Einsatz ihre Strukturen im Osten etabliert, Mitglieder gewonnen und so ihr Einflussgebiet erweitert. Jetzt mussten sie erleben, wie in ebenso kurzer Zeit ihre gewerkschaftliche Macht mit den Industriearbeitsplätzen verschwand. (3,5 Millionen waren es in nur zwei Jahren!) Die Zahl der Arbeitslosen stieg etwas langsamer, Kurarbeit Null und verschiedene „Auffanggesellschaften“ verzögerte für viele die Arbeitslosigkeit. Das war tatsächlich eine bisher nie erlebte Situation, auf die Gewerkschaften zu reagieren hatten, deren Strukturen und deren Selbstverständnis – wie schon erwähnt – aus ganz anderen, aus besten sozialpartnerschaftlichen Zeiten stammten.

Ich hatte eingangs gesagt, dass es nicht um eine „Fehlerdiskussion“ gehen kann; wir müssen aber die Fragen stellen können, welche Rolle die Gewerkschaften als Akteur in dieser Zeit in Ostdeutschland gespielt haben, vor welchen Problemen sie standen und wie sie auf die Anforderungen reagiert haben. Wie ist ihnen in dieser Situation der Spagat zwischen Mitgestalten und Protest gelungen?

Ich möchte zum Abschluss ein paar solcher Themenfelder skizzieren. Sie sind ergänzungsbedürftig.

Standortpolitik Die gewerkschaftliche Verteidigung eines bedrohten Industriestandortes hatte immer problematische Seiten; jetzt aber ging es um die konkurrierenden Standorte in West und Ost, die Standortproblematik bekam einen brisanten politischen Charakter. Wie haben sich die Gewerkschaften hier positioniert? Spätestens an dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es erhebliche Unterschiede zwischen dem Agieren der Vorstände und dem der Gewerkschaften auf Landes- und Bezirksebene gab; und dass auch Gewerkschaftsvorstände durchaus unterschiedlich auf die Situation im Osten reagierten. (verweis auf Morgen)

Betriebspolitik In allen Gewerkschaften lag – ungeachtet einiger Unterschiede – der Schwerpunkt beim Aufbau von Betriebsräten, über die sie ihren Einfluss auf die Betriebspolitik stark machen konnten. Nun zeigte sich schnell, dass ein großer Teil dieser Betriebe entweder stillgelegt oder auf ein Minimum der Belegschaft reduziert wurde, … und mit ihnen verschwand das betriebliche Standbein der Gewerkschaften, die Betriebs- und Personalräte. In einer solchen Situation griff also die auf den einzelnen Betrieb fokussierte gewerkschaftliche Abwehr- und Aushandlungspolitik nicht oder nur gering. „Jeder stirbt für sich allein“, wurde zur prägenden Erfahrung ostdeutscher Belegschaften. War den Gewerkschaften dies bewusst? Gab es Überlegungen, überbetriebliche und/oder branchenübergreifende Widerstände zu organisieren? (Verweis auf Morgen)

Treuhand mit der Treuhand, die im Auftrag der Bundesregierung eine schnellstmögliche Privatisierung alle Betriebe und Einrichtungen der ehemaligen DDR durchzuführen hatte, bekam der Kampf der Gewerkschaften um die Interessenwahrnehmung der Belegschaften per se einen politischen Charakter. Hat sich dies in einer veränderten Taktik gezeigt? Wurde über die Möglichkeit diskutiert, den politischen Streik als Mittel gewerkschaftlicher Gegenmacht einzusetzen? Immerhin stand mit der Treuhand ja der Staat als treuhänderischer Verwalter von über … Betrieben und Einrichtungen den Gewerkschaften gegenüber, was die Einsetzung dezidiert politischer Kampfmittel und auch außerhalb tariflicher Auseinandersetzung legitimiert hätte. Und welche Rolle haben die Vertreter*innen der Gewerkschaften in der Treuhand gespielt? Wie sah die gewerkschaftliche Interessenvertretung in diesem Verwaltungskoloss eigentlich aus? (Verweis auf Morgen, Frage an Marcus Boick)

Es gäbe noch eine Reihe anderer Themen, die darauf warteten, untersucht zu werden, um die Rolle der Gewerkschaften als Akteur zwischen Mitgestaltung und Protest in Ostdeutschland der frühen 1990er Jahre besser verstehen zu können. Fangen wir heute mit einem Blick auf den Gewerkschaftstransfer in drei Gewerkschaften an.